Mailand Prosa Gedichte 2003
Leonardo da Vinci Das letzte Abendmahl
1498; Fresco, 460 x 880 cm;
Konvent von Santa Maria delle Grazie, Milan
Prosa Gedichte
Im Übergang
von 2003 zu 2004
von
Hatto Fischer
Inhalt
Mailand im November
Grausame Wahrheiten
Statt Mathematik Lektion über Nietzsche
Die Heirat
Kurz gesehen
Nietzsche weint und eine neue Jugend nimmt sich seiner an
Augenblick in einer Liebesaffäre
Straßenangst
Der Gesang
Zurück nach Ithaka
Der Lohn für eine Tagesarbeit
Mailand im November
In keiner Stadt sind Straßen vermeidbar, aber in Mailand kommt noch etwas hinzu.
Sie gleichen stehenden Flüssen. Verstärkt wird das unter der Woche durch den Stau. Wenn überhaupt der Verkehr fließt, dann nur zögerlich. Folglich tritt jeder im Widerspruch zu Heraklit auf der Stelle. So bleiben aus Veränderungen. Letztere werden erst durch Träume möglich. Sie zu realisieren, dazu gehört vor allem Mut. Erst dann kann jeder im Alltag zu bestehen.
Dagegen sieht es am Sonntag ganz anders aus. Zwar gähnen einem dann bloß leere Straßen entgegen, aber um diese Zeit taucht der Dichter Guilio auf. Kommt! Geht auf und ab. Bleibt stehen!
Er bleibt stehen weil schräg gegenüber ein rätselhaftes Schattenspiel begonnen hat. Ihm scheint es als wolle der Schatten nichts mit der Sonne zu tun haben, doch das, überlegt er sich, gelänge ihm nur als selbstständige Projektion an die Hauswand. Darum wartet er bis die Sonne hinter den Dächern verschwindet, weil dann das Spiel natürlich beendet ist.
Unwillkürlich muss er dabei an seine Liebe denken. Jüngst hat er sie verloren. O, wie wahr war sie gewesen! Um so schmerzhafter ihre Abwesenheit angesichts den leeren Straßen von Mailand. Es fehlt ihm ihre Lebendigkeit.
Warum es nicht mit ihr ging, aber die Trennung nicht seine Schuld, dazu bräuchte er erstmals jemanden der bereit ist seine Geschichte anzuhören. Außerdem bräuchte er Zeugen die belegen können was er sagt. Zeugen können einfach Straßenpassanten sein oder Gäste am Vorübergehen im Leben. Anders die imaginären Zeugen. Sie würden erstmals wissen wollen wenn es nicht mit ihr, mit wem ginge es dann? Sie könnten aber verstehen, das ihre Liebe seinen Gedichten gleich kommt; beide entstehen spontan aus der Situation heraus. Aber können sie das noch heute?
Einmal im Zweifel verfangen, treibt es ihn wie einen verirrten Hund in der Stadt herum. Oftmals kommt er an jener Straßenecke vorbei, wo sie einst stand. Damals war sie hilflos wegen eines zeitlosen Verlangens ihrer Liebe nach seiner Hand.
Heute erinnert er sich ihrer als nah zugleich fern, aber stets in tiefster Ehrfurcht.
Ähnlich die Erinnerung an seine Mutter als sie noch Mailand mit dem Boot durchquerte.
Heute klingeln an selber Stelle Fahrradfahrer ehe die Hupe eines Autos sie verjagt.
Nichts anderes besagt sein Gefühl: es handelt sich um einen unerfüllten Wunsch nach jener anderen Stadt, wie sie einst mit ihren Flüssen war, und heute in Milan vom Straßenbau unsichtbar gemacht. Ebenso war sie einst für ihn da; heute ist sie einfach weg.
All das macht seine Poesie und derzeitige Situation aus – er dichtet was er fühlt wenn er daran denkt, wie seine Mutter sich mit dem Boot aufmachte, und durch die Stadt, an endlosen Häusern vorbei, zu ihm kam. Unter den Brücken fand sie im Sommer kühlenden Schatten oder Schutz vorm Regen. Doch das von den Wänden zurück hallende Singen oder Lachen, das ist längst verklungen. Im Rückblick fehlt ihm fast alles.
Um so aufmerksamer schaut er jeden Sonntag wer von der Beichte aus der Kirche kommt, in die nächste Straße einbiegt oder einfach an ihm vorbei eilt. Denn es sind genau diese Menschen die nicht einmal merken das seine Lyrik gegen all diese Verluste protestiert.
Magnolia war ihr Name, im November eine seltene Blume.
Mit seinen Gedichten versucht er um so mehr die von den Straßen verschütteten Flüsse erneut hervorzuholen. Und sie! Aus der Schuld die sie ihm zuletzt gab, wurde sein Leben zum Inbegriff der Sünde.
Seine nächste Sünde wird vermutlich das Aufschlagen des großen Kirchentores sein; es lässt einfach zu viel Licht auf einmal ins Kirchenschiff hineinströmen. Dafür tut sich eine neue Innenwelt auf. Es wird das von Leonardo da Vincis gemalte Abendmahl hervor geholt. Allein in Andacht solch einer Kunst weiß er die Zeit fürs Abendgebet ist gekommen, nur gilt das allein für die Reuigen, die einsehen, Verlust an Liebe hat mit Angst zu tun. Anders seine Neigung. Er will nicht beten, sondern lieber dichten, um ihre Abwesenheit zu überbrücken. Kann er das?
Ein Philosoph spricht von der Neutralisierung gelebter Erfahrungen wenn Erinnerungen nicht länger auf zukünftige Generationen übertragbar sind. Was wollen sie in Wirklichkeit von seiner Liebe wissen? Fast gar nichts! Aus dieser Einsicht heraus hat er sich sein Sonntagsritual entwickelt. Doch als er die Kirche durchquert, wird er aufmerksam auf ein Relief an der Wand. Es zeigt die Kontur einer schönen Frau mit bewegtem Gesicht. Ihm scheint es als würde sie ihm etwas verschämt zulächeln!
20.11.2003
Grausame Wahrheiten
Noch heute ist der Befehl zu hören:
zurück bleiben!
Im Museum sind die Schuhe
derjenigen zu sehen,
die im Konzentrationslager
verschwanden.
Ein Schweigen liegt Frost-ähnlich über Allem.
Damals tauschte Jean Amery sein Essen gegen Zigaretten ein.
Er überlebte diese drei Jahre, nicht aber die Zeit danach.
Nie zuvor waren so viele Züge an diesem Ort angekommen;
sie entluden ahnungslose Passanten. Die Endstation hieß
Auschwitz.
Adorno meinte danach seien keine Gedichte mehr möglich.
Januar 2004
Statt Mathematik Lektion über Nietzsche
Wir schrieben die Zahlen an die Wand,
aber unser Lehrer meinte, all das sei für den Wind.
Ähnlich erging es uns als er fragte:
welcher Weg biegt von alleine ab? Keiner!
Solch eine Methode dient allein dem Zweck
Verwirrungen zu stiften oder mittels Irrwitz
verborgene Wünsche sichtbar zu machen.
Dann ließ er den Mathematik Unterricht ganz sein.
Lieber erzählte er uns vom „also sprach Zarathustra“.
Eines Tages machte der sich zum Dorf auf. Er wusste
die Leute warten auf ein Wort von ihm, dem großen Herrn.
Unser Lehrer schien darauf anzuspielen, ein jeder stelle sich vor
eines Tages solch eine große Rede zu halten,
möglichst zur Rettung der Nation, wenn nicht sogar der Welt.
Er warnte davor dahinter verberge sich eine ungeahnte Hierarchie.
Sie tritt in Krisenzeiten hervor wenn Angst am stärksten sei.
Zarathustra verließ seine Höhle und ging bergab,
vorbei an Büschen die ihm entlang des Weges
noch lange nach sahen. Ein unvergesslicher Anblick.
Er hatte auf diesen Augenblick gewartet.
Er wusste die Menschen auf dem Marktplatz
warteten gespannt auf das was er, Zarathustra, verkünden würde!
Einmal unten, trat er sofort ans Podest.
Er schaute in die Menge und gab dann das Zeichen, er wolle sprechen.
Als er aber mit seiner Rede beginnen wollte, kam es anders als erwartet aus ihm heraus. Er wollte vorerst nur sagen: Fürchtet Euch nicht!
Doch plötzlich überflog ein Schatten seine Seele.
Er erschrak, dann besann er sich wieder.
Nein, stellte er fest, damit könne er keinesfalls beginnen.
Das war allen ein zu bekannter, weil biblischer Spruch. Was sonst sagen? Was verschweigen? Er rang um Worte. Ihm kam nur das Nichts.
Was nicht sein soll, kann nicht erzwungen werden, dachte er kurz. Dann stotterte er noch irgend etwas hervor, brach aber sofort entsetzt ab.
Schnell verließ er die Bühne. Das war sein letzter öffentlicher Auftritt.
Das Leiden des unverstandenen Philosophen, meinte unser Lehrer,
trat erst in Turin vom Vorschein. Nietzsche ging dort täglich
zu einem Gemüsestand denn jene Marktfrau war die einzige die ihn verstand.
Im Vergleich zu den Akademikern, oder jenen daheim war sie ihm zugetan.
Immerzu hatte sie ein freundliches Lächeln für ihn. Sie ahnte sein Leiden.
Vor kurzem hatte er sich um eine Arbeit an der Athener Universität beworben.
Als das Nein eines Tages per Brief herein flatterte, traf es ihn in der Seele.
Besonders Griechenland, Land der Ideale, das lag ihm am Herzen!
Wie konnte es nur zu solch einem Nein kommen? Keiner außer ihr verstand ihn.
Nach diesem 'Nein' strauchelte er. Bald war er zu krank, um für sich selbst zu sorgen.
Vieles kommt erst im Trauerspiel zum Vorschein. Im Spiegel
seiner Worte wurde ihm klar, er geht rapide auf den Untergang zu.
Noch versuchte er durch Empathie sein Selbst zu retten, aber es gelang ihm nicht.
Wenn einmal Gesundheit und Krankheit voneinander abgetrennt,
nicht mehr durchs Gegenteil wahrnehmbar sind, kommt es zu Kurzschlüsse!
Nichts vermochte mehr seine Gedanken artikulierbar zu machen.
Alles schien an einer Außenwand von Unverständnis ab zu prallen.
Gefeilt mit Selbstironie vermochte Nietzsche lange sein Scheitern
im Bekenntnis zur Macht zu verbergen. Daraus entstand seine Metaphysik.
Er kam zwar nie bei den damaligen Akademikern an, aber noch heute
zieht er diejenigen in seine Bahn, die Leben anders verstehen wollen.
Ein geistiges Herumirren folgt daraus, weil hilflos geworden.
Bei Nietzsche geschah vermutlich das aus unverstandener Liebe,
eine, die er nie selbst erlebte. Statt Richard Wagners Assistent zu
sein, und damit in der Nähe seiner Tochter bleiben zu können, machte jener ihn zu seinem Diener. Folglich blieb Nietzsche
Professor im fernen Stuttgart. Wagner wusste, Menschen hören nicht auf einen Assistenten, aber sie achten darauf was ein Professor sagt.
So wurde er zum Propagandist für Wagners Musik und Antisemitismus.
Praktisch ruinierte er dadurch seinen akademischen Ruf. Einmal
verbannt von der akademischen Welt, fand er nirgends wo eine neue Stelle.
Warum Nietzsche das tat, wer weiß welche Schwellenängste er hegte?
Vermutlich wusste Nietzsche vom Schicksal des jungen Werthers.
Die Gefahr in der Romantik ging damals unter Dichtern um: Selbstmord.
Dies ist insbesondere der Fall wenn Poesie nicht Liebe umwerben kann,
die Frau viel eher den Schreiner oder Landwirt heiratet, nicht aber
den Dichter. Nach seiner Rede in Stuttgart verlor er seinen Halt.
Er floh nach Turin und blieb dort bis zur vollen Erkrankung ganz allein.
Den Wunsch verstanden zu werden, erfüllte sich Nietzsche nie.
Einmal nach Weimar zurückgekehrt, blickte er als Schaufensterpuppe
im Museum seiner Schwester für weitere zehn Jahre auf sein Leben zurück.
Schlicht gesagt, meinte zum Schluss unser Lehrer, daheim zählt halt
mal nur das Einmaleins
und
das Nachrechnen, ob es stimmt.
8.12.2003
Die Heirat
Ein seidenes Tuch schien
zum Schutz der Beiden
die ganze Heirat zu umspannen.
Als ob die Anwesenden nur darauf warteten,
dass sie endlich den Schleier ihres Geheimnis lüften,
galt doch für Beide die Liebe als etwas entscheidendes im Leben.
In Andacht solch einer Überzeugung war es ganz still in der Kirche.
Nur einsilbige Nebentöne drangen von draußen rein.
Jemand flüsterte, diese Seufzer entstammen
jenen schmerzvollen Seelen,
die bislang bloß Trennungen in ihrem Leben kennen.
Folglich wagen sie nie das, was die Beiden nun tun werden:
den Schritt hin zum Altar für die Trauung!
Deren Bekenntnis zur Liebe war außergewöhnlich,
während das für die draußen Verbliebenen dem tropfenden Wasser
auf einen heißen Stein glich.
Kaum hatten sie jemanden gefunden,
verdampfte die Liebe alsbald im Alltag.
Vermutlich aus Angst vor einer nicht mehr rückgängig zu machenden
Bindung entflohen sie stets dem Alltag, hinein ins nächste Desaster.
Selbst in dieser Stadt mit roten Turmspitzen fanden sie niemanden.
Immerzu froren sie äußerlich aber noch mehr innerlich an Einsamkeit.
Vergeblich versuchten sie mit den Armen
etwas Wärme für ihren Körper zu erzeugen.
Sie glichen dabei Gänsen die mit ihren Flügeln schlagen, ehe sie abheben.
Vergeblich! Es war ihnen seelisch erbärmlich kalt.
Aber freilich, meinte der Pfarrer aus Bayern, solchen Seelen sei nicht zu helfen.
Sie würden ja die Heirat und die Kirche wie der Teufel das Weihwasser scheuen!
Die Menschen, die aber drinnen der Zeremonie beiwohnten,
sie sahen wie eine Heiratszeremonie in Andacht begann
und mit ihrem Kuss aufhörte.
Um das zu tun, stand sie auf Zehenspitzen.
Januar 2004
Kurz gesehen
Zufrieden war er nie mit sich gewesen; sie aber auch nicht.
Als deren Liebe zueinander noch nicht in Zweifel stand,
drückten die Beiden sich noch anders aus, aber unbemerkt
verwandelte sich das 'mal Vorbeischauen' ins 'Wegschauen'.
Sie merkten lebenswichtige Fragen kamen nicht zur Sprache.
Unmöglich zu rechtfertigen, erfanden sie einen Zeitverlust.
Doch anders als der Fluss reibt sich die Zeit an der Materie wund.
Am ehesten ist das den Gebäuden in der Stadt anzusehen.
Ganz egal wann entstanden, verlieren sie rapide an Glanz wenn vernachlässigt. Das kommt gleich einem Ausweichen wenn der andere kommen will.
Heute schreiben sie sich keine sms. Kein Kuss kommt von ihr mehr an.
Sie können nicht; aus lauter Müdigkeit sind sie fast eingeschlafen.
Ehe sie sich trennten, haben sie die Vergeblichkeit ihrer Liebe eingesehen.
18.12.2003
Nietzsche weint und eine neue Jugend nimmt sich seiner an
Interesse an seinem Geist, insbesondere unter Jugendlichen, ist sehr groß.
So behauptet ein Student der durch Nachtdienst in einem Straßburger Hotel
sich das Geld fürs Studium verdient, ohne Nietzsche könne er nicht leben.
Ob Kontrapunkt oder Balanceakt zum Leben selber, die Gefahr, sich nicht
in der eigenen Verrücktheit zu akzeptieren, die ist stets gegeben.
Das macht Nietzsche aus. Er erläutert rational den Wahnsinn der neuen Jugend
die, weil ohne Arbeit, leicht im nächsten Trauerspiel zu involvieren ist. Am Eingang zum Nichts offenbart sich was abgegeben werden muss: die Liebe zum Konkreten. Angeleitet von einem gegenstandslosen Geist, wären die Jugendlichen verloren,
gäbe es nicht den Geist von Nietzsches der das Fassungslose zum Bestand des Nihilismus machte.
Es soll auf Griechisch ein geradezu populäres Buch über Nietzsche
geben. Versehen ist es mit dem Titel 'Nietzsche weint'. Geschrieben wurde es
von einem Psychiater der ihn während seiner Basler Zeit behandelt haben
soll. Offensichtlich war die Behandlung weniger erfolgreich als der Nachruf.
Ergriffen ist die Jugend vor allem von Begriffen wie 'Pathos der Distanz'
oder 'Geisteskrankheit'; auch von 'Liebeskummer' oder 'Pathos im Trauerspiel' .
Aber dem Begriff 'Übermensch' kann sie nicht viel abgewinnen. Eher dem 'Nichts!'
Die Jugend hat eine viel zu klare Denkstruktur. Sie geht damit in die Tiefe
wo die Erwachsenen an der Oberfläche hängen bleiben. Erstaunt waren aber alle
von einer Zeichnung die Nietzsche auf der ersten Seite eines Aufsatzes
noch spät nach Mitternacht angefertigt hatte, um Nebengedanken zu erläutern.
All das kann in Verbindung mit einer schlichten Auffassung gebracht werden,
Nietzsche habe in den letzten zehn Jahren bloß aufs eigene Leben zurückgeschaut.
Nietzsche, sagt man, wurde von seiner Schwester als lebendiges Objekt
fürs Museum solange missbraucht, bis Mussolini Hitler dorthin gelockt hatte.
Es machte die Verschwörung gegen die Weimar Verfassung tatkräftig, denn Dank
des kranken Nietzsches schien das Entsetzen der Macht Mangels eigener Substanz kein Problem zu sein. Eher schwor es die Macht auf die Krankheit zum Tode ein.
19.12.2003
Augenblick in einer Liebesaffäre
Der Augenblick wird unmittelbar
wenn Liebe ihn weiter tasten läßt.
In ihrer Nähe wirkt Leben
weil Gegenwart erlebbar wird.
Klar der Moment, Lustvoll ihre Lippen
zugespitzt
zum frechen Pfiff
oder zum Kuss.
Aber wo beginnt in Wirklichkeit
die Liebe? In dem Augenblick wenn Liebe sich
im Raum der roten Träume
einfindet?
Eine wirkliche Nähe will etwas besagen.
Ähnlich zum Schweigen des Weltalls
ist alles in solch einer Stille hörbar,
angefangen mit ihrem Atem.
Doch wie groß kann die Liebe sein,
fragt er, und würde sie existieren
selbst wenn alles
unter einem schäbigen Dach,
kaum die Sonne oder den Regen
raus haltend, statt fände?
Vielfach münden solche Gefühle
in einer Permutation an Möglichkeiten
das Hotelzimmer mit farbigen Tüchern
zu verzaubern – so Sartre im Konflikt
mit seinem empfundenen Ekel wegen
eines Stelldicheins mit seiner Geliebten.
Zwar vermag nichts so sehr wie die Angst
sein inniges Gefühl beeinträchtigen,
denn er hegt den Gedanken, sie würde danach
ihm wieder diesen Augenblick entziehen.
Das macht seine Angst zum echten Zweifel.
Obwohl es ihn bis an den Rand des Vertrauens
drängt, gibt er nach und folgt ihr ins Bett.
Deutlich fühlt er wie sie sich bereits anschickt
ihn gehen zu lassen, wenn alles vorbei ist.
Immer zwingt ihn dabei etwas Perverses
außerhalb dieser Unmittelbarkeit zuerst
wahrzunehmen. Das macht aufmerksam aufs Unangenehme an einer Liebesaffäre falls sie nur für heute gilt, morgen aber keinen Anspruch stellen darf.
Mangels einer Vermittlung wird sein Mut
verkleinert als ob alles nur im Abstand
zu ihrem Wagnis statt finden könne.
Er sieht wie sie auf ihn zukommt.
Ihre Augen besagen dabei
was sie sich selber vorstellt.
Gerne zitiert sie Bilder aus dem Leben
der Frida Kahlo – für sie das Vorbild
einer Wildheit, die durch nichts
zu beeinträchtigen ist. Freiheit gilt
in jeder Hinsicht für sie.
Schließlich habe keiner das Recht
ihr, oder irgend jemanden anderen,
eine Beziehung aufzuzwingen.
Solch ein Recht würde ihre Liebe
niemals anerkennen. Genug ist es ihr
wenn Liebe der Liebe wegen gelebt wird.
Als ob ein Wind, der von ihrem Atem ausgeht,
ihn endlos auf einem Karussell der Wünsche
drehen ließe. Die dazu spielende Musik
ist, wie Amerikaner pflegen zu sagen, 'reckless'.
Mark Twain war sich dessen bewusst
als seine Frau ihn nicht in der Gesellschaft
fluchen ließ. Huckleberry Finn flüchtete
darum mit Jim auf einem Floß,
den Mississippi runter. Das waren Zeiten
als noch Träume zu fischen waren.
Doch einmal in voller Lust
scheint ihm alles möglich.
Er spürt das bereits als sie ihn
nach Ankunft begrüßt, ob nun am Flughafen,
in der Stazione Milano, oder halt
direkt in ihrer Wohnung. Die Ankunftsorte
ändern sich, nicht aber die stets aufwallende Lust,
sobald er sie wieder sieht, und das nach Monaten
der Abwesenheit bis erneut eine Gelegenheit sich bietet.
Da sind erst ihre Augen,
dann das enorm vertraute Gesicht.
Ihre Blicke berühren tiefe Gefühle,
so auch ihre menschliche Stimme.
Seine Augen tasten ihre Bluse ab.
Erst recht verliert er sich,
wenn später, ihr Busen voll entblößt,
sie frech auf ihn zugeht,
und
ihr drohendes aber Warte-Nur
im Umarmen aufgeht.
Es entsteht ein inniges Miteinander.
Angetrieben von ihrem Atem,
kommt er ihr ganz nahe.
Mehr noch als seine Blicke es vermögen
oder seine weiter gehende Hände
die nun über ihren lebendigen Körper streifen,
fühlt er sich in diesem Augenblick befreit, ja befreit
von jener Angst sie würde wieder gehen.
Angesichts ihrer anwesenden Liebe spürt er
für einen Augenblick die Gewissheit des Glücks.
2.3.2004
Straßenangst
Was zusammen treibt, das treibt auch auseinander,
wenn nicht den Niederlagen Einhalt geboten wird!
Angefangen hat es mit Frankreich und der Revolution.
Da gab es die Barrikadenkämpfe und das Einnehmen der Bastille.
Hinzu kommt Heinrich Heine. Er ist zu bewundern.
Selbst auf dem Krankenbett vermochte er noch zu spotten:
über die Deutschen, die alles sofort erledigen,
oder über die Franzosen, die immer noch
selbst auf dem Schafott improvisieren.
Solch ein Vergleich kommt auf am wiederholten 1.Mai
wenn in Kreuzberg – Berlin, nicht in Paris Krawalle geschehen.
Aber dann explodierten Bomben in London in 2005.
Seitdem besteht eine Straßenangst die viele lähmt.
Es gibt Ausnahmen; andere nennen es Zivilcourage,
aber für Frauen im Unterschied zu Männern
ist es keine Selbstverständlichkeit überall allein
unterwegs zu sein; nur jene scheinen imstande dem Fremden zu vertrauen.
Sie konnte das, stammte allerdings aus Paris und zeigte ihm was Liebe ist,
indem sie unerwartet und ganz allein nachts zu ihm kam.
28.3.2004
Der Gesang
Ohne Harmonie mit dem unendlichen Himmel,
gibt es keinen Gesang der auf Tao verweist.
- ‚Chinesisches Staatsweisheit’, übersetzt von Franz Kuhn
Jedes Hinauszögern der Entscheidung
zerteilt die Gegenwart, macht Begegnungen
in aller Ehrlichkeit unmöglich. Sie ließ
dennoch ihre Hand auf dem Tisch liegen,
als er die Seinige drauflegte, und ihr sagte,
er würde sie lieben. Innerlich war sie bereits
von dannen geflohen, aber nach außen hin
wahrte sie den Schein der Anwesenheit.
.
Die menschliche Stimme bleibt aus
wenn wir nicht länger wissen woher die Liebe stammt,
nämlich aus dem Gesang der Schönheit.
Jedes Ich braucht ein Zuhause.
Ohne Dach über den Kopf
regnet es nicht nur herein.
Es fehlt einem der intime Ort.
Im Leben geschehen seltsame Dinge.
H. Bosch zeigte wahnsinnige Gestalten,
die sich wie schleimige Schnecken
fort bewegen, das Haus mittragend.
Jeder Regenfall erschwert den Weg.
Viele blicken zurück, nicht wissend
wie sie es dennoch schafften
trotz Schlamm den Weg zu finden.
Gewiss, Leben als Wagnis
kennt keine Perfektion,
aber Zutrauen ist nötig,
will die Erfahrung wahr sein.
Jede Idee der Mündigkeit
betont das viele Bücher lesen.
Andere schauen fern, oder sie
hören zu, was die Kinder sagen.
Erleichtert sind Menschen allemal,
wenn am Ende sie doch erkennen:
ja, es hat noch einmal geklappt.
Sie sagen sich, welch ein Glück!
Jede Ruhe hat mitten drinnen
einen Drang das zu vergessen
was gestern noch Abschied hieß,
und heute die neuen Feinde sind.
Es gibt keine Ankunft im Sein
wenn bloß von Sorgen bestimmt.
Eher ergibt das eine Ungenauigkeit.
Und auch eine ungewisse Zukunft.
Jede Verzweiflung beendet das Wissen vom Weg.
Nichts besteht mehr. Kein Grund mehr zu sein.
Das hieße Wünsche sind unauffindbar.
Den Strich durch die Rechnung zieht das Leben.
Die Verneinung zeigt entlang welcher Grenze
Armut in der veralteten Gesellschaft verläuft.
Nicht weniger schlimm ist der Mangel an Liebe.
Erkennbar sind beide, wo Menschen im Müll suchen.
All das ändert sich sobald ein schöner Gesang ertönt.
Eine Stimme, die sich was zutraut, trägt die Melodie.
Sagenhaft das Lieder-Gut weil voller Erinnerungen
an einst erfahrene Sternstunden der Menschheit.
29.3.2004
Zurück nach Ithaka
War die Suche nach ihm bereits kompliziert,
so gestaltete sich der Rückweg noch schwerer.
Sie wollte aber jetzt zurück, zu ihrem Ithaka.
Dabei taten nicht nur die Beine weh, auch der Bauch,
der knurrte wie ein hungriger Bär oder schrie
wie ein Säugling nach Mutters Milch. Vergeblich.
Manchmal schaute sich sich ängstlich um
und sah, dass nur der eigene Schatten folgte.
Unterwegs gab es kaum Bäume die Schatten spendeten.
Aber gewillt es zu schaffen, gönnte sie ihren ausgelaugten Körper
kaum etwas Ruhe; sie machte sich alsbald wieder auf den Weg.
Die Mittagssonne brannte erbarmungslos nieder.
Der ganze Mund war ausgetrocknet, die Lippen nahe
dem Aufspringen, um so mehr lechzte sie nach Wasser.
Fortan hielt sie nach einer Quelle Ausschau, aber auch ohne
schleppte sie sich weiter. Als Frau war sie geprägt aber zäh.
Seit Tagen unterwegs, zählte sie nicht mehr die Tage,
sondern die Jahre seitdem sie sich aufgemacht hatte,
um ihn zu suchen. Die Botschaften von Troja flogen da schneller
von Bergspitze zu Bergspitze, in drei Tagen waren sie da.
Dagegen musste sie rauf und runter, durchs Tal und über Berge.
Eine Gewissheit half ihr dabei - den Weg zurück kannte sie.
Keiner vermochte ihr zu sagen wo er in Griechenland verblieben war.
Die Götter konnte sie nicht fragen. Heinrich Heine meinte, die haben
sich ohnehin schon lange von dieser Welt verabschiedet.
Und selbst die einzig Verbliebene, nämlich Calypso, ansonsten so
helle, konnte trotz ihrer Hinterlist sein Schicksal nicht erraten.
All das unterstrich das Vergebliche. Sie suchte aus Treue nach ihm.
Er gab ihr das Wort als er eines Tages sich aufmachte. Als Grund gab er an, er wolle die Orakel von Delphi befragen, ob seine Liebe halten würde. Nimm mich mit, hatte sie ihn damals gebeten, aber er blieb bei seinem Vorhaben.
Allein zog er los. Damals gab sie stumm bei. Heute dagegen denkt sie anders.
Seitdem er von ihr fort ging, fühlt sie sich einem Nicht-Wissen ausgesetzt -
gleich einem kleinen Fischerboot auf hoher See bei einem aufziehenden Sturm.
Wellen an Wellen der Verzweiflung schlagen fortlaufend gegen ihre Stirn. Warum
war sie damals auch so dumm gewesen, ihn allein losziehen zu lassen?
Als müsste die Frauen immer zuhause warten, wenn die Männer fort gingen?
Erst als sie einsah, die Suche war vergeblich, entschied sie sich umzukehren.
Schwer ging es bergauf. In den Knien tat es weh, aber noch schwieriger war es,
als es anschließend wieder steil bergab fiel. Den gebrochenen Gang hinunter
verkraftete ihr geschwächter Körper kaum noch. Den nächsten Schritt
tat sie dennoch. Sie ging weiter in der Zuversicht auch dies gehöre zum Leben.
Besonders am letzten Tag setzte ihr die Mittagssonne enorm zu.
Selbst die Stimmen der Vögel waren im Schatten verstummt.
Nur die unsichtbaren Zikaden, die hörten niemals auf.
Eher überstiegen sie sich nochmals als sie endlich zuhause,
erschöpft auf dem Bett lag. Da lag sie nun ausgestreckt,
fast regungslos, so schien es, aber nur für eine Weile.
Erneut stand sie auf, um den Vorhang zu schließen.
Das Licht blendete sie zu sehr. Sie wollte endlich im Dunkeln
schlafen, vielmehr träumen, frei von einer Angst, er würde sie wieder betrügen,
und erneut von dann ziehen. Aber Selbstvertrauen hatte sie zurück gebracht.
Allein dem Mittagsschlaf überlassen, wurde es ihr kurz vorm Einschlafen bewusst, Ithaka war sie selbst. Aus Treue zu ihm hatte sie bislang seine Lebensart akzeptiert.
Damals ließ sie Dinge geschehen wie er es wollte, aber mit neuer Einsicht,
gab ihr das Leben zu verstehen, sie bedarf der Freiheit im aktiven Warten.
Komisch! Bislang hatte sie einfach passiv zugesehen, wie Steine und Sand stets
fallen, um ein Muster zu ergeben. Doch jetzt, nach ihrer Rückkehr, fand sie die Mut.
Noch mehr, sie hatte die Zuversicht, vielmehr liegt es an ihr wie die Dinge
gestaltet werden. Außerdem erinnerte sie sich jetzt, dass er gegangen war
ohne sich nochmals umzudrehen. Das aber tat Orpheus und verlor dadurch
seine Geliebte in der Hölle. Wenn sie so darüber nachdenkt, wird ihr bewusst, zumindest hat er sie vor solch einem Schicksal bewahrt. Bei diesem Gedanken
angekommen, fand sie endlich den nötigen Schlaf, und träumte vom Leben.
28.3.2004
Der Lohn für eine Tagesarbeit
Mit zittrigen Händen berührte er ihre Augenbrauen.
Er fragte sich, als er sie da liegen sah, tief versunken, im Schlaf,
ob das der Lohn für ihre Tagesarbeit sei: das Erschöpft-sein?
Aber er kam nicht sehr weit mit seiner Frage.
Sie bewegte sich plötzlich ein wenig. Erschrocken
zog er seine Hände zurück und betrachtete ernsthaft
ihr Gesicht. Ihre weiche Mienen im Schlaf besagten
ihr Gemüt ist gleich der Obhut im Leben ein Geschenk.
Dankbar nahm er diesen Anblick wahr. Dann wagte er es erneut.
Dieses Mal wolle er noch behutsamer vorgehen.
Alsbald kam es zur Berührung seiner Finger mit ihrem Gesicht,
doch das half ihm wenig; er geriet in einen Strudel wildster Gedanken.
Ohne Rückhalt wich er zurück. Falten legten sich auf seine Stirn.
Sie war wunderbar. In aller Ruhe lag sie da, einfach ausgestreckt.
Ihre Füße steckten noch barfuß in Holzpantoffeln.
Mit denen war sie über die Schwelle herein geschlürft
ehe sie sich aufs Bett warf, um nur für eine Weile zu ruhen.
Durchs Fenster sah er die von ihr bestellten Felder.
Die Furchen in der Erde besagten die Spuren ihrer Tagesarbeit.
28.3.2004
--
Hatto Fischer
Poiein kai Prattein
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