Hitze in Berlin 2002
Savignyplatz in Charlottenburg, Berlin
Inhalt
Schritte
Ein stumpfes Mehr
Tagesnotizen
Ein Fleck Rot auf weissem Feld
Kunst und Raum
Verstehen der Kunst
Aufgegriffen
Das schlechte Gewissen der Nation
Die Wahrsagerin
Kindheit in Berlin
Schattenmund
Die Struktur eines Gastvortrags
Steuererklärung der Sprache
Hitze in Berlin
Am Ende des Jahres 2002
Schritte
Schritte, warum zeichnen sie nicht einfach
im Sand nach, wohin es gehen soll?
Da archaisch eingestellt, fehlt nur der Stock dazu,
um das Denken und Gehen zu vereinheitlichen.
Allerdings schlürfen manche Schritte bloß nach.
Sie scheinen den tieferen Spuren des Nachdenkens
nachgehen zu wollen. Das Gehen in aller Freiheit
hiesse dagegen dem Denken den Weg zeigen zu lassen.
Aber als alle marschierten, waren die Schritte voller Ängste
wegen des strengen Befehls nicht mithalten zu können.
Schritte, Schritte, Schritte...sie verhallen im Wahnsinn.
Aber heute, beim Gehen nach Hause, fragen sie sich selber,
wohin des Weges,
wohin mit dieser Sprache?
Einmal in der Wohnung, im linken Seitenflügel
verlangen die Schritte gleich neugierige Kinder
immer wieder auf die Straße zu schauen.
Sehnsüchtig in ihrem Verlangen, treten sie
ans einzige Fenster des Berliner Zimmers
und sehen es gibt keinen direktem Blick.
Licht scheint allein in den Hinterhof.
Im dritten Stock reicht es gerade noch aus.
So sehen die Schritte kaum die Sprache
da arm an Licht, mehr eingesperrt als imstande
mit der Fantasie von dannen zu fliehen.
Da erreicht ihnen der Brief eines Freundes.
Auf seiner Reise durch Indien stellt er fest
Dinge würden sich erst klären wenn Menschen,
unterwegs begegnet, ihm solche Schritte erzählen,
die seine Schmerzen berühren, weil erst dann
imstande zwischen einem wahren
und einem unwahren Bettler zu unterscheiden.
Danach sei ein Zugehen auf andere leichter.
In Folge des Briefes aus der Ferne
versuchen die Schritte zuhause
solche Gedanken hinaus zu tragen.
Erneut vor der Tür, auf der Knesebeckstraße,
bleiben die Schritte treu dem Takt gleich Gefangene,
die die Vision der Einsamkeit zu spüren bekommen,
weil sie unsichtbar, voneinander getrennt
ähnlich zu Figuren auf dem Fließband
auf Schritte der anderen lauschen müssen, aber vergeblich.
Am Savigny Platz in Berlin gibt es eine Schule,
an der oft genug Züge vorüber donnern.
In einem Blick gilt es manches festzuhalten:
den Bücherbogen, Menschen im Verkehr,
die Unterführung, wo sie endlich laut schrie.
Das rührt an eine verrückte Szene in Berlin,
die seit dem Film vom 'Kabarett‘ besteht:
„Money makes the world go round!“
Oder waren es nicht Irrationalitäten, die plötzlich
losgetreten wurden, weil allzu viele schwiegen?
Stattdessen füllten sich die Straßen mit Gleichschritten.
Das Älter-werden drängt sich auf, wenn mutige Schritte ausbleiben.
Manche meinen es sei an der Zeit etwas langsamer zu gehen,
doch niemand dachte daran was geschieht, wenn jeder seine Erlebnisse
durch die Zeit, gleich dem Kind die Puppe, hinter sich schleifen lässt?
Nach dem Krieg war das aber auch nicht weiterhin verwunderlich.
Zerbombte Wohnungen, halb erhaltene Hinterhäuser,
und entleerte Fabrikhallen ließen die Stadt einsam sein.
Schritte verhallen immer noch in leeren Straßen. Niemand schaut nach.
Zeitgleich tat der Westen alles, aber alles, um auf den Osten
die Schuld für den verlorenen Krieg abzuschieben,
doch mit der Zeit änderte sich die Disposition der Schritte.
Zwar steigerte sich mit der Zeit das Verlangen nach Freiheit,
aber keiner sah wirklich voraus was 1989 geschah. Erst
als die Menschen mit ihren Füssen abstimmten, war es klar.
Seitdem verschwinden nach und nach alle freien Grundstücke.
Politiker meinen, die Stadt bekäme dadurch eine 'Skyline',
doch in Berlin gilt nach wie vor der Maßstab 'Staub Hoch Vier'
der laut Bloch ein Kennzeichen der Planungsdiktatur
schon immer war – und auf den breiten Straßen
stockt trotzdem der Verkehr
...und bleiben maßvollere Schritte aus.
Seitdem stehen die Schritte vor unsichtbaren Grenzen still.
Gleich einer Skulptur aus Eisen verkörpern sie vergessene Schuhe.
Gewidmet dem Schreiten zur Tat aber verdeckt vom Bauschutt
wollen sie etwas evozieren. Vergeblich. Die Schritte verharren
weiterhin im Schatten der Vergangenheit ohne zu wissen was kommen mag.
16.10.2002
Ein stumpfes Mehr
...gestern am Meer,
heute wieder in der Stadt,
gab es leider am Abend
kein Entkommen mehr.
Die Sehnsucht
nach dem Meer
war einfach zu stark.
Seltsam, stockt der Abendverkehr,
bleiben die Gleise ebenso still.
Einsame Figuren auf dem Bahnsteig
warten vergeblich. Trostlose Blicke
werfen sie vor ihre Füsse, manche fragen sich,
wo sind nur alle anderen verblieben?
Nahe dem Ausgang hocken Krähen herum.
Als der Aufzug ankommt, huscht eine Ratte davon.
Einem Ulrich Beck nach, wäre die Risikogesellschaft
keine Gespensterstadt, lediglich teile sie sich auf
in diejenigen, die die Stadt im Auto umfahren,
und die die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen.
Unsichtigerweise gibt es aber noch hungrige Schatten,
die in mageren Nischen hausen und auffallen,
weil die allzu hohen Fahrkosten sie ausschließen.
Faktisch ohne Geld, streckt der junge Bettler seine Hand
den Fahrgästen entgegen. Das erinnert an Giottos Gestik.
Neben ihm kauern zwei Hunde. Sie bewachen die Armutsnot.
Sofern die Ausdehnung der Stadt etwas bedeutet,
wenn überhaupt, dann nur als ein stumpfes Mehr!
Einzig und allein der Vollmond, meint der Nachtbusfahrer,
würde den Unterschied zwischen Schatten und Dunkelheit
in den Straßen scherrenhaft ausschneiden. Solch eine Stadt sei
eine wahre Fundgrube. Eines Abends schimmerte eine Münze
am Straßenrand im gelblichen Licht des Buses. Das war alles.
Am nächsten Morgen zeigte sich was sie wirklich war:
Verblendung, weil bloß eine als Münze getarnte Schokolade.
Immer kniet der Bettler vor der Sparkasse
wie ein Betender auf seinem Kissen
und murmelt vor sich hin, er habe
den Unterricht zum Leben versäumt.
Geht die Zuversicht einmal verloren,
schweigt die junge Generation
weil ohne Perspektive, nur gelangweilt,
sie endlich neue Melodien hören will,
nur Goethe ließ die Nachtigall
nach ihrer Wiederkehr
schöne, alte Lieder singen –
nichts Neues hat sie gelernt!
Bei so vielen Wiederholungen
wird Natur statisch beschworen;
kaum vorhanden, ist ans Weiterkommen
nicht zu denken. Bleibt obendrein
der Menschenstrom aus, wird die Stadt
vom Rotstift gekennzeichnet sein.
Und verstummt das Meer,
schweigt die Stadt
um so mehr.
Tagesnotizen
Heute gab in der Rostlaube
Klaus Heinrich seinen Vortrag.
Wieder fand sich ein das Panoptikum.
Unter den Zuhörern waren außer den Studenten
allerlei Gruppen bestehend aus Ärzten, Architekten, Beamten,
und beiläufig vorbeikommenden Bürgern,
die alle neugierig genug waren, um für zwei Stunden
diesem Autor von 'Die Schwierigkeit Nein zu sagen'
zuzuhören. Er sprach über die Faszination
der Linien seit Piranesi und löste damit
eine Serie an Assoziationen zur Geschichte
der Architektur aus. Einmal gewendet
in eine kulturelle Frage, verschwindet
bei Piranesi das hellenistische Ideal;
stattdessen wird die römische Kultur
als die Robuste gepriesen, und somit
teilt sich der Rückblick in den Süden
zwischen Rom und Antike als nur schwer
miteinander zu vereinbarende Vorbilder.
Eine weitere Notiz besagt, Heinrich gilt fast
einem Phänomen gleich Lacan in Paris,
nur weniger eine Kultfigur als viel mehr
ein fruchtbarer Denker, der neue Räume
da zum Nachdenken öffnet, wo andere
Fakultäten eher den Studenten den Weg
versperren. So ist der Hörsaal
voller gespannter Zuhörer.
In den hinteren Reihen sitzen jene,
die stets zu spät kommen. Auch sie.
Ferner trug er in sein Tagebuch ein,
Heinrich würde beim Vortragen
ständig auf und ab gehen, und
ohne Notizen frei sprechen. Ihm
käme das gleich einer Hypnose.
Würde einer in der hinteren Ecke
niessen, sagte er kurz 'Gesundheit',
und setze dann ungestört mit dem Vortrag fort.
So vereinen sich Kunst und Studium
außerhalb der Bibliothek, da wo
die Studenten am Fahrradständer
verweilen bis der Bus sie abholt
oder wie jene Frau aus der hintersten Reihe
schlichtweg alleine zu Fuß weiter geht -
ohne ihn zu beachten, noch zu spüren
wie schwer er sich tat sie nicht anzusprechen.
Ein Fleck Rot auf weissem Feld
Das Abstrakte anstatt die Empathie
entstand aus Klees Erinnerung ans Schöne.
Laut Worringer wurde das
zu zwei Beweggründen im 20.Jahrhundert.
Noch mehr! Klee beliess seine Bilder „ohne Titel“.
Erst als Walden für sie poetische Titel erfand,
fanden Betrachter einen Zugang. 'Übermut'
heißt das Bild vom Jungen auf dem Roller
der dem Berghang herab rast. Klee zeigt ihn
mit einem Bein hoch, nur eine Hand am Lenkrad,
und die Zunge raus. Was danach kam,
ist leicht vorstellbar, doch wer denkt noch
Rettung wird kommen, wenn die Gefahr droht?
Die rote Farbe auf weiss wirkt
gleich dem Blut im Schnee.
Es war außerdem das Zeichen
für die verlorene Jungfräulichkeit
der Braut nach der Hochzeitsnacht.
Solch eine widersprüchliche Zartheit
hatte Luis Buñuel im Sinn,
als er die obskure Begierde,
als Ablenkung vom Terror begriff.
Kunst und Raum
Verwunderlich ist nur
warum viele Künstler
keinen Raum
zu nutzen wissen,
geschweige denn im Raum
kunstvoll zu existieren.
Die Kunst ist es, verschiedene Dimensionen
miteinander spielen zu lassen, zum Beispiel,
da wo das Ei als Skulptur von Herbert Distel
auf der Wasseroberfläche ruht und im Wasser
sich solange spiegelt, bis ein Windhauch
aufkommt und mittels leichter Wellen
eine ganz andere Raumvorstellung erzeugt.
Als dieser erste Preisträger von Sao Paulo,
die Skulptur Boulevard auf dem K'Damm sah,
als Berlin Kulturhauptstadt Europas 1988 war,
meinte er, die Künstler hätten es nicht verstanden
den öffentlichen Raum kunstvoll zu gestalten.
Verschiedene Dimensionen müssten unabhängig
vom Blickwinkel da zusammen strömen,
wo die Skulptur offen und alleine im Raume steht.
Als Erfinder des Schubladenmuseums interessiert ihn,
welch eine Bedeutung kleinste Räume bei Künstlern
wie Picasso, Man Ray, aber auch Beuys einnehmen.
Er meint, Künstler sagen nie wie viel Raum sie bräuchten,
lediglich wollen sie Raum für ihre Werke haben,
insofern genügt es ihnen, wenn das Kunstwerk darin atmet.
Verstehen der Kunst
Die Kunst zu verstehen wäre, laut Hans Haufe,
mitzubekommen, welche Entscheidungen
des Künstlers beim Entstehen des Kunstwerkes
das endgültige Ergebnis beeinflussen, um ergebnislos zu bleiben...
Andere Künstler in Berlin kommen einem da in den Sinn:
Azade Köker und ihre Skulptur von Frauen auf einer Bank.
Sie erwischt sie beim Schwatzen über Anna Livia,
als sie sich fragen, wie schaffte sie es nur so viele Männer,
wie ein mächtiger Fluss mit vielen Nebenflüsse zu bekommen?
Dagegen war Paula Meehan stets bedacht, topische Landschaften
abstrakt zu malen, aber dann riet ihr der Galerist, will sie etwas
verkaufen, braucht er topografische Bilder nackter Frauen.
Dagegen war Mariusz Lukasik blind in seiner Kindheit und stellte
in der Künstlergalerie 'Kwartz' auf der Grolmannstraße aus.
Er stammt aus Praga in Warschau, wo er plötzlich im Kellerloch
Sindbad, den Seefahrer, entdeckte. Statt zur See zu gehen, flickte er
einen Fahrradschlauch. Kurzum versah Mariusz ihn mit Turban
und stellte ihn als einmalige Radierung auf dem Marktplatz vor.
Ferruccio Marchetti wohnte unterhalb von Urbino in einem Haus
das einst einem Schäfer gehörte. Als er noch in Milano malte,
wollten viele seine Bilder kaufen, noch ehe sie entstanden waren.
Er stieg aus dem Kunstmarkt aus und wurde stattdessen Lehrer
bis er in einen frühen Ruhestand gehen konnte, und nach Orpheus
die Frage stellte, zerstört der Maler beim Rückblick das Schöne?
Und eines Tages malte er ein Uhrwerk bestehend aus Skorpione,
denn er ahnte die Nähe des Todes, die seine Daphne vorwegnahm.
Roger Servais bricht dagegen Farben wie kaum ein anderer Maler,
und wer ihn von der Knesebeckstrasse her kennt, der sieht ihn
stets laufend, unterwegs, fast keuchend, weil es so viel zu tun gibt,
doch auch er liebt die Frauen. Zeigt er unverhohlen deren Ängste,
dann weil Schatten der Vergangenheit am offenen Fenster vorüber gehen.
Noch viele andere Künstler in Berlin wären zu erwähnen
bis einer kommt und mit seinem Gehstock in den Sand zeichnet.
Er will damit sagen, leider bliebe hier die Kunst oberflächlich;
Schuld sei ein Mangel an Philosophie der imaginären Empathie,
da es ein festes Fundament dafür kaum in Berlin geben kann,
sagte bereits Hegel, auf Sand ließe sich schlecht bauen...
Aufgegriffen
Nicht die Münze,
noch die Mücke
werden aufgegriffen,
sondern Gerüchte.
Sie zeigen auf denkbar
schlechte Möglichkeiten,
weil selbst vergebliche Versuche,
die im Trugschluss enden:
"auch das ginge nicht!"
Das schlechte Gewissen der Nation
Selbst wenn der Staat oder die Sozialdemokraten
Günter Grass auffordern, deren 'Staatsschreiber' zu sein,
bleibt das Gewissen immer noch aussen vor.
Seltsam wiederholt sich ungewollter Weise
das Schicksal seit Goethes 'Wahlverwandtschaften' -
schließlich handelt es sich dabei um Eingriffe in die Natur,
die eine schreckliche Hybris nach sich ziehen.
So was geschieht in familienähnlichen Konstellationen,
wenn der Staat das 'per Du' mit der Literatur feiert,
dagegen der Bürger nicht den Polizisten auf offener Straße
persönlich anreden darf. Der Form nach ist Höflichkeit das Gesetz.
All das hebt allzu früh die Vorstellung einer Versöhnung
einer staatstragenden Politik mit dem freien Selbstverständnis auf,
denn was dem Bürger erlaubt ist, wird ihm nicht von der Wiege her
mit auf den Weg gegeben, sondern es wird schlichtweg von ihm gefordert:
nimm Dich in Acht,
sei froh, dass Du überhaupt lebst,
denn es hätte noch viel schlimmer kommen können:
„Roll over Beethoven!“
Die Wahrsagerin *
Im Vergleich zu Pascal bieten seine Meisterstücke Kurse an.
Während also die Geschichte weiter ging, bildete Viktor Hugo
in Frankreich eine Wahrsagerin aus, die dann viel zu spät, 1968,
Andre Malraux dazu riet, einen Teppich für das Louvre zu kaufen.
Der Teppich stammte aus Ägypten und es wurde gesagt, darauf
lag zuletzt Alexander der Große als er starb. Die Wissenschaftler
waren sich nicht sicher dafür einen verifizierbaren Beweis zu haben.
Nach solch einer Beratung blieb Malraux keine andere Wahl
als eben zu dieser Wahrsagerin zu gehen. Sie verlangte Ruhe.
Im Zimmer brannten nur wenige Kerzen. Dennoch funkelten
ihre pechschwarzen Augen, wie die einer Katze im Dunkeln.
Sie beschwor ihre Finger, fühlte den Teppich gründlich, holte
tief Luft und sagte: ja, Alexanders Blut rieche sie förmlich.
Malraux eilte zurück zu seinem Büro und telefonierte sofort
mit seinem Freund und Geschäftsmann in Ägypten, um zu sagen,
ja, das Louvre wird den Teppich nehmen. Zu spät, hörte er
am anderen Ende des Telefons, vor einer Stunde habe jemand
vorbei geschaut und gekauft. Keiner weiss bis heute, ob jener
nicht ein Gesandter der Wahrsagerin gewesen war. Etwas später
kaufte ein berühmtes Museum in Amerika den Teppich.
Seitdem wird Mitterrands Nachlass zum Anlass genommen,
anhand der neuen Architektur aufzuzeigen, es gibt eine andere Wahrheit,
als was die Wahrsagerin selber wusste, und zwar nur diese:
„Viktor Hugo sah viel und nichts
in den Straßen von Paris!“
*Eine Nacherzählung von Andre Malraux
Kindheit in Berlin
Walter Benjamin nahm
in seiner Kindheit in Berlin
die Eltern wahr,
als seien sie eine Tankstelle.
Hundertwasser machte aus ihnen
ökologische Nischen
wo Zapfsäulen die Brust
der Mutter ersetzen.
Einmal aufgetankt,
ging es auf Reisen.
Kinder nennen das
wirkliche Träume.
Etwas anderes machte sich
in der Kindheit bemerkbar.
Damals galt in Berlin
Karl Mays überlieferter Beweis
der letzte Mohikaner lebe noch.
Auf seinem Pferd würde er
immer weiter über die Steppe,
hinein in die Ferne, reiten.
Das Gute daran war,
ab dann vermochten
die Worte der Eltern
den Kindern nichts mehr anzutun.
So hielten sie es schließlich
unter der Decke aus,
denn die Eltern wussten nicht
statt zu schlafen
wurde mit Hilfe der Taschenlampe
im dicken Buch von Karl May
bis spät nach Mitternacht weiter geschmökert.
Schattenmund *
Lange fand sie keinen Rat.
Normale Ärzte im Krankenhaus
konnten ihr nicht helfen.
Sie versuchte wirklich alles.
Sie litt, weil ihre Blutungen
nie aufhörten. Keiner wusste
warum - auch sie nicht.
Endlich ging sie, zwecks Rat
zu einem Psychoanalytiker.
Er wohnte am Ende
einer Sackgasse.
Sie ging rein, sah ihn aber nur
hinter seinem Schreibtisch sitzen.
Sie ging nach einer Stunde wieder raus,
ging und kam, blieb nachdenklich,
spürte Widerstand und Schmerz,
aber nach und nach veränderte
sich etwas bis sie endlich verstand
wo sie sich mit ihrem Schattenmund befand:
inmitten eines Schmerzes
vergleichbar mit dem Ozean
voller Illusionen,
die ihre Liebe verhinderten.
Als die letzte Sitzung um war,
stand er zum ersten Male auf.
Erst dann sah sie
er war nur
ein ganz kleiner Mann
Dabei hatte sie sich
ihn ganz anders vorgestellt.
22.10.2002
* nach dem Roman von Marie Cardinal
Die Struktur eines Gastvortrages
Die EU Kulturpolitik brauche etwas Dringendes,
und sei es ein gezieltes, nein, sogar ein kritisches Wort,
um die Kommission auf moralische Sensibilitäten
aufmerksam zu machen.
Ansonsten blieben nicht nur die Poeten,
sondern alle der Öffentlichkeit fern.
Europa wäre ansonsten kein Zuhause für alle.
Verdrehung gibt es. Stellen die Nachbarn
auf Griechisch eine Frage, antworten andere auf Deutsch.
Oft genug wird das italienische 'Stesso' gebraucht,
in England 'just the same', so kämen Kreuzväter
zu Wort. Sie wollen sofort das Licht ausmachen.
Das ändert nichts an der Tatsache, meint der Bulgare,
dass die sprachlichen Differenzen eher verwirren,
als dass die Menschen begreifen könnten
was von einem Euro-Gipfel zu erwarten sei.
Das Beispiel ist ganz in Ordnung. Zwar gäbe es in Brüssel
keine Gipfel, dennoch reden die Minister von Gipfelkonferenzen.
Statt Meinungen der Bürger anzuhören, argumentiert UKIP *
fände im EU Parlament eine Art Transplantation
der Demokratie solange statt, bis das Herz der Macht
beim Rat landen würde, und der wiederum mit der Kommission
ein heimliches Spiel plane. Verkürzt auf Abmachungen,
würde das Europas Dominanz über die Mitgliedsstaaten einfädeln.
Heinrich Böll sah voraus und nannte all diese ehemaligen Anti-Kommunisten,
Anti-Politiker. Sie wollen partout ihren anti-Europa Stempel
Europa aufdrücken, statt sich der europäischen Dimension zu widmen.
Leider wird immer mehr ein nationaler Alleingang gesucht,
weil ein jeder herausfinden will, welche Kulturpolitik.
zum eigenen Staat passe. Das reduziert fast alles
auf eine Frage des Einkaufs von Hemden,
wobei nur eines zu beachten wäre: ob der Kragen passe?
Bei all den bürokratischen Hindernissen, die im Wege stehen,
verhalten sich die Menschen wie die blinden Ameisen, die
noch immer einen Weg da herum finden werden. So gesehen,
kann noch einiges in den Kohlestaub geschrieben werden,
selbst wenn kulturelle Kooperationen nicht alle einbeziehen.
So heißt es zur deutschen Kulturpolitik, sie sei kaum vorhanden.
Stets wird sie mit der Macht und darum mit dem Machtanspruch
verwechselt. Tiefflieger verstehen es besser zu landen, als jene
die es nicht schaffen vom Tisch abzuheben. So bleibt es beim Menü:
-
als Vorspeise wird serviert in der EU bloße Mitgliedschaft,
weil offenkundig keine Gewissheit besteht wer regieren will;
-
als zweite Vorspeise gibt es, wenn kein kultureller Konsensus
zustande kommt, ein Eintopfgericht schmackhaft gemacht
mit allerlei eingekauften Zutaten auf dem Brüsseler Markt am Gare Midi.
-
Erstes Hauptgericht soll auf der Zunge zergehen, insbesondere
wenn andere etwas Scharfes sagen, aber es nicht so meinen. Folglich
werden es der Jahreszeit entsprechend die Muscheln als Brüsseler Spezialität sein.
-
Eine vorzeitige Nachspeise gibt es bereits, wenn die Presse Gerüchte verbreitet,
die Suppe sei zu heiß gewesen.
-
Wenn die Mitgliedsstaaten sich schwer tun, das Fleisch zu schneiden,
dann erinnert das Brüsseler Hauptgericht an Hegels Definition von Macht
als der Trick 'zu trennen was zusammengehört', um alle beisammen zu halten.
-
Gemeinsames Essen ist ohne kulturelle Synthesen undenkbar, aber Früchte
gibt es als gemischte Ware aus sämtlichen Herkunftsländern, Afrika sei
hier explizit gegrüßt, wenn in vollen Körben all das heran geschafft wird.
-
Viel Essbares wird als kulturelles Erbe vermittelt, doch jeder besteht
auf nationale Besonderheiten, sei es Olivenöl, Feta oder auch die Pizza,
ansonsten entstehen verkehrte Welten wenn griechisches Öl über Italien
nach Deutschland gelangt, um es von dort aus nach Griechenland zu exportieren.
-
Da leider das industrielle Erbe höchstens zweitrangig behandelt wird,
fehlt es an Stullen, Rotweine der Kooperativen und an allem was die Revolutionären
gerne zu sich nahmen, ehe sie mit ihren Parolen durch die Straßen zogen.
-
Das Scheitern der Kulturpolitik kann nicht allein
mittels des Föderalismus erklärt werden, dazu benötigt
die Gesellschaft der Dichter eine eigene Aufklärung.
-
Finanzielle Grundlagen fürs Essen werden dadurch geschaffen,
indem der Staat die Kunst beherrscht übers Geld zu reden
ohne daraus Geld für die Kunst zu machen.
Es bleibt zurück nur eine vage Frage: nach welchem Selbstverständnis werden
die Wertprämissen gesetzt, um das Handeln mit der Kunst zu erklären?
Na gut, dann halt einen guten Appetit an alle in der EU Runde,
die sich weiter dreht, wie die Erde, die mit nur einem Teil
jeweils der Sonne zugewandt ist. Eine wahre kosmische Wirklichkeit!
Steuererklärung der Sprache
Ohne zu warten,
rauschen die Sätze
einfach auf und davon,
und lassen viele Wörter
unausgesprochen zurück.
Fazit der Steuererklärung:
die Marginalisierung
des Bewusstseins
wird der Sprache sehr teuer
zu stehen kommen.
Hitze in Berlin
Die halb abgerissene Wand erträgt nicht mehr die Hitze.
Sie stöhnt nur noch übers gebrochene Rückgrat -
verursacht von der Abrissbirne.
Die Sprache der Bewohner wurde im Schutt davon getragen.
Es blieb keine Zeit dem einst stolzen Haus Abschied zu sagen.
Namen zur Erinnerung gibt es nicht mehr,
die Klingelanlage
wurde schon längst entfernt.
Hier wohnten einst jene die spurlos verschwanden.
Überall ist das Licht ausgegangen.
Selbst der Schatten
findet tagsüber
keinen Schlupfwinkel zum Schlaf.
Erbarmungslos die Hitze.
Sie ziert die Leere wie das Brennglas
bis die Zeit im Hinterhof alles Übrige
wie ein altes Kleidungsstück
dem Boden entlang schleift.
Es nimmt dem Zufall den letzten Atem.
Keiner schaut mehr die Straße runter,
um zu sehen, wer noch kommen mag.
Berlin West war eine Welt für sich geworden
als die Trennung noch keine 20 Jahre alt war.
So kam es zur Begegnung in der Mitte der Hitze
mit einem viereckigen Regentropfen. Sie verstand
Liebe als ein blindes Laufen im Vertrauen in den anderen,
um dann nackt da zu stehen. Seitdem gab es immer wieder
im umgebauten Dachgeschoss des noch stehenden Hauses
chinesische Lustspiele von sich versöhnenden Körpern,
die im Zeichen des glücklichen Himmels darauf warteten
bis endlich Wolken aufzogen und der Regenguss alles abkühlte.
Am Ende des Jahres 2002
Am Ende des Jahres
beginnt das Nachdenken
darüber
welche Zeitstrukturen
sich gegenseitig
ergänzen
zerstören
verwirren
und ob es überhaupt gelingen kann
Vergangenheit Gegenwart Zukunft
von der Ungleichzeitigkeit zu befreien.
Ergebe sich daraus eine poetische Antwort
auf was vom neuen Jahr zu erwarten sei,
dann hiesse das ein unerwartetes Glücklich-sein!
Die damalige Grundfrage lautete allerdings,
ob es Krieg gegen Irak geben wird?
Darauf antwortete Kanzler Schröder:
„der Krieg darf sich nicht
in unserem Kopf festsetzen!“
Hatto Fischer
Berlin 2002
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