Gute Nachbarschaftsverhältnisse
Die Dichter der Antike widmeten sich vor allem menschlichen Konflikten denn ihnen war wichtig gute Nachbarschaftsverhältnisse zu pflegen. Meistens entzünden sich gerade im unmittelbaren Bezug auf den anderen nebenan, also quasi über den Gartenzaun, die größten Konflikte.
Inwiefern die moderne Poesie imstande ist auf ähnliche Weise zu guten Nachbarschaftsverhältnisse beizutragen, ist darum eine sehr wichtige Frage. Inwiefern die Poesie überhaupt soziale Beziehungen thematisiert müsste ebenfalls überprüft werden. Bei der Gegenwarts-Lyrik kann leicht der Eindruck entstehen als gelte nur das eigene Gedicht als erweiterter Ich-Bezug. Die Beziehung zum anderen, wenn nicht gerade die verlorene oder viel beschworene Liebe, bleibt einem Ich-Du Dialog verhaftet. Ob überhaupt die moderne Poesie imstande ist unmittelbar erlebte Beziehungen als das zu reflektierende Selbstverständnis in Worte zu fassen, bleibt dahin gestellt.
Statt soziale Beobachtungen differenzierter zu fördern, werden häufig eher verhalten beiläufige Wahrnehmungen vorgeschoben. Fast scheint die Gegenwarts-Lyrik als würde sie auf einer Vorstufe zum Dialog stehen bleiben. Dahinter steckt vermutlich eine Scheue vor wirklichen Auseinandersetzungen. So belassen viele Dichter es bei einer indirekten Rede, wenn nicht sogar bei symbolischen Andeutungen. Das gleicht einem Ringen um Bedeutung in einem Leben das wenig Sinn zu machen scheint. Ein vorsichtiger Ansatz endet da wo die Kontakt-Aufnahme mit dem anderen erst wirklich beginnen könnte.
Die feinsinnige Dichterin Krystyna Dabrowska liefert da ein wunderbares Beispiel. Sie ist sich selber überhaupt nicht sicher ob sie ein Gedicht über ihren Nachbarn ohne seines Wissens verfassen soll. Sie fragt sich ob das ihm überhaupt angenehm ist? Ihr Gedicht beginnt mit einer Begegnung mit ihm:
Das Gesicht meines Nachbarn
Das Gesicht meines Nachbarn, des Professors, dessen Frau gestorben ist, ist plötzlich nackt, ohne Schutz. Als ich ihn im Hof traf und er unverhofft offen erzählte, wie viele Dinge ihn an sie erinnern, hatte ich den Eindruck, als sähe ich sein Gesicht zum ersten Mal.
Krystyna Dabrowska
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Ganz anders hingegen mein direkter Kontakt mit einem blinden Mann der auf der Dafnomili Straße in Athen wohnt, und den ich oft beim Vorübergehen sehe. Bewundernswert ist seine menschliche Ausstrahlung und Präsenz in der Straße. Das machte solch ein Eindruck auf mich, dass ein Gedicht von ihm entstand. Es besagt daß er als Blinder weitaus mehr als die anderen während der Krise in Griechenland sieht. Vor allem betrachtet er die Dinge niemals pessimistisch, sondern er verbreitet Zuversicht. Er ist fest davon überzeugt, dass sogar ich als Fremder in der griechischen Gesellschaft meinen Weg finde (siehe The blind man 2012). Das Gedicht gab ich seiner Tochter so daß sie es ihm vorlesen kann.
All das geschieht im Sinne einer guten Nachbarschaft in diesem Stadtteil von Athen, insofern alle im Vertrauen zueinander sich stets freundlich begrüßen und darauf achten wie es dem anderen ergeht. Zugleich lässt sich in der Nachbarschaft leicht beobachten wie die Zeit vergeht. Damit wird die alltägliche Ebene und Finalität von Leben zu einer ständig sich veränderten Synthese in der Wahrnehmung des Unterschiedes zwischen der trivialen und der tragischen Ebene. Die Konfrontation mit der zweiten, oft von Arthur Koestler im 'Akt der Kreativität' beschriebene, kann jederzeit geschehen. Der Tod eines Hundes kann ebenso das tragische Gefühl als eine am Pfosten angefestigte Meldung vom Tod eines unbekannten Nachbarn hervor rufen.
Neighourhood
When lights go on at night, |
Nachbarschaft
Wenn die Lichter nachts ausgehen, und die Träume mit dem Mond hervortreten, dann hören wir Katzen die sich auf den Stufen lieben und wie jemand nebenan die Jalousien runter lässt. Solch eine Lokalität ist ähnlich einem Pinsel der über Erinnerungen an die vergangenen Jahre streift und über noch weitere Jahren die in Zukunft hinzu kommen, und darum sehen wir Kinder heran wachsen, während andere die Lokalität verlassen und manche der Älteren für immer verschwinden. Wenn dieser Pinsel der Geschichte nur die Augen besänftigen könnte, Augen auf der Suche nach Anzeichen einer Liebe.
Hatto Fischer Athen 30.12.2011
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Solch eine Nachbarschaft erlaubt selbst in einer Großstadt wie Berlin zufällige, weil alltägliche Begegnungen. Der eine geht zur Arbeit während der andere gerade vom Einkaufen zurück kommt. Manchmal diskutiert man zu Dritt was über die jüngsten Sicherheitsvorkehrungen nach den Anschlägen in Ansbach, München und Würzburg zu sagen ist. Jeder vertritt da seine eigene Meinung, der Maler Roger Servais mehr extrem weil als Jude in Berlin er eher von einer Angst bestimmt ist. Aus dieser Vielschichtigkeit in der Nachbarschaft lebt es sich anders als in den anderen Bezirken von Berlin. Nur in Kreuzberg gibt es eine Gemeinschaft die geschlossen sich gegen Gentrifikation wehrt. Gleichfalls existieren da unmittelbare Beziehungen zum anderen doch die sind weitaus mehr von einer bestimmten politischen Haltung geprägt, und das in Abgrenzung zur restlichen Gesellschaft die sich eher in der Mitte der Stadt aufhält und in ihrem Wohlstand mehr auf Konsum ausgerichtet ist.
- Der gesellschaftliche Kontext für gute Nachbarschaftsbeziehungen
Wollen Dichter und Philosophen zu friedlichen Lösungen beitragen, müssten sie aus einer ähnlichen Umsicht wie die Dichter der Antike 'poetisch' handeln, sich demnach der Gewalt fern halten und auch keine Gewaltanwendung bejahen bzw. glorifizieren oder sie im Namen einer Ideologie, Religion oder Nation rechtfertigen. Sie müssen ebenso erkennen, dass Gedichte oftmals alleine nicht genügen, um eine Gesellschaft zu befrieden. Sie können aber vermitteln. wäre es um so wichtiger das die bereits von der Gesellschaft anerkannten Dichter das Wort ergreifen und die Öffentlichkeit zur Besinnung bringen.
Definitiv die Poesie Festivals in Medellin verstanden es Poesie in die Gesellschaft reinzutragen und dadurch einen wichtigen Beitrag zum Abbau gefährlicher Konfliktpotentiale zu geben. Die Kolumbische Gesellschaft war über die vergangenen sechzig Jahre bis 2016 in einem gefährlichen Dreieck verwickelt. Gewalt ging aus von den Rebellen, der Militia und dem Staat. Leidtragend war die zivile Bevölkerung. Mittels einer zugänglich gemachten Poesie als unmittelbarer Bezug zum anderen fanden die Leidtragenden einen Art Schutz. Sie lernten miteinander zu kommunizieren, ja ihre unterschiedlichen Bedürfnisse zu übersetzen, um eine weiter gehende Verständigung zu ermöglichen. Der sanfte und rücksichtsvolle Umgang mit den anderen liess die Zuversicht entstehen, dass es auch ohne Gewalt geht.
Es wurde bereits erwähnt der starke Eindruck vom 26. Weltpoesie Festival. Die ganze Gesellschaft schien in Bewegung geraten zu sein und dadurch eröffneten sich für jeden neue Perspektiven. An ein Weiterkommen war zu denken. Junge Leute vermittelten überzeugt, sie würden mit den vielschichtigen Herausforderungen zurecht kommen. Ein Anteil an dieser Befriedigung der Gesellschaft waren gewiss noch andere Faktoren u.a. die Bemühung um einen Friedensvertrag mit Unterstützung der Vereinigten Nationen und Kuba, als auch Investitionen in neue Gebäuden, insbesondere in Museen und öffentliche Bibliotheken. Entscheidend dürfte vor allem Dank der Poesie Festivals eine veränderte Rezeptionshaltung der ganzen Bevölkerung sein. Sobald darauf eingestellt eine Vielfalt an poetische Stimmen zu hören, waren sie bereit auch sich selber zu zuhören.
Eine Vielfalt an Stimmen bringt alle näher einer gemeinsam lebbaren Wahrheit. Michael D. Higgins sprach davon wie wichtig es ist eine Dialektik zwischen öffentlichen Räumen und öffentlicher Wahrheit durch die Kultur als Suche nach Wahrheit lebendig zu halten. Solch eine politisch motivierte Gemeinsamkeit prägt dann ebenso die lokale Nachbarschaft als es einen übergreifenden kulturellen Konsensus bezüglich gemeinsamer Werte schafft.
- Der Nachbarschaftsbegriff der EU
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- Der Nachbarschaftsbegriff im Nahen Osten
In einer bemerkenswerten Rede von Barack Obama bei der Beerdigung von Simon Peres am 30.9.2016 wurde der Nachbarschaftsbegriff hervor gehoben:
About Simon Peres: "He understood from hard-earned experience that true security comes through making peace with your neighbors"
Speech of Barack Obama at Simon Peres funeral, 29.9.2016
http://time.com/4514543/obama-transcript-shimon-peres-memorial/
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