Ποιειν Και Πραττειν - create and do

Einleitung: Ein roter Schimmer am Horizont

Wer die chinesische Geschichte, „Die Räuber von Liang Schan Moor“ kennt, wird diesen Hauch der asiatischen Welt erneut einatmen wollen, noch ehe ein Blick auf die jüngste Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 und ihrer Auseinandersetzung mit der anderen Wirklichkeit, genannt die 'DDR', geworfen wird. Schließlich endete diese Auseinandersetzung nicht in 1989, sondern wird unter anderen Zeichen fortgesetzt.

Wer einmal solch einen geschichtlichen Atemzug verspürt hat, kennt jenen Weitblick über die Steppe hinweg, um das Kommende am Horizont auszumachen. Allerdings bestehen beide Möglichkeiten, wenn es zu erraten gilt wer aus weiter Ferne da anzurücken scheint; es kann entweder Feind oder Freund sein. So steht es dann auch in den Chinesischen Romanen, übersetzt von Franz Kuhn, geschrieben: in der Ferne ist der heranziehende Staubwirbel der Reiter bereits zu erkennen, doch einzelne Figuren können noch nicht identifiziert werden, um auszumachen, wer trotz der allgemeinen Erwartung auf einen Botschafter da unerwartet heran naht.

Noch schwieriger geht es nach Ankunft zu. Für Botschafter mit schlechter Nachricht ist solch eine Mission niemals einfach. Die großen Herrn lassen allzu oft ihre Launen und Mißgefallen wegen der Botschaft am Untertan aus. Bei guter Nachricht gibt es selbstverständlich eine Belohnung. Aber selten wird im Fall schlechter Nachrichten in der Literatur darüber berichtet, ob die Botschafter nicht darum eher geneigt sind den Inhalt der Botschaft ein wenig zu ändern. Vermutlich viele tun es aus Angst vor einer Bestrafung. Indem sie die Botschaft etwas geschmackvoller machen, insofern sie die wirkliche Niederlage in einen Sieg umdeuten, versuchen sie die Folgen für sich selber zu mildern. So werden die verherrenden Konsequenzen als nicht weiter so schlimm dargestellt, um die Herrschaft davon überzeugen zu können, keiner in der Hauptstadt habe wirklich einen Grund sich ernsthafte Sorgen machen zu müssen. Es gegnügt also allein durch ein leichtes Verbiegen der Tatsachen die Wiedergabe von was real geschehen war, zu entstellen. Die Botschafter tun das mit gutem Gewissen. Schließlich wollen sie einer Bestrafung entgehen, zugleich erklärt das weshalb Regierungen oftmals zu spät und fatal überzogen auf Entwicklungen reagieren, wenn die plötzlich unerwartet wie Flutwellen über sie hereinbrechen.

Ähnliches geschieht in modernen Betrieben und Organisationen u.a. der Europäischen Kommission. Alle beteiligen sich aus Angst vor Konsequenzen am Zurechtbiegen der Wahrheit. Folglich wird die echte Information in ihrer Weitergabe mehr als nur manipuliert, sondern sogar verfälscht. Der Druck erfolgreich sein zu müssen, der ist einfach zu enorm. Häufig genug werden deshalb wichtige Tatsachen ganz einfach unterschlagen, und dies aus dem Wunsch heraus alles im Lichte von 'business as usual' erscheinen lassen zu können, so als sei nichts außer gewöhnliches geschehen. In Wirklichkeit dienen solche Vorbeugemaßnahmen, die ebenso in 'Spinn-Doktoren' Berichten münden, einem Vermeiden-Wollen an Panik. All das lässt nur eine Option zu, nämlich die Wahrheit zugunsten einer scheinbaren Normalität zu opfern. Dem kann noch etwas laut Kevin Cooper in Belfast hinzu gefügt werden, nämlich nichts schlimmeres gibt es als die Abnormalität zur Normalität zu erklären.

Aus Furcht vor der Wahrheit verstrickten sich alle mit der Zeit im Lügennetz. Sie verlieren dadurch zunehmend an Mut die offene Aussprache zugunsten einer öffentlichen Wahrheit zu riskieren. Keiner will bloß gestellt werden. So wird alles von einem Still-Schweigen besiegelt, so dann werden viele Vereinbarungen, insbesondere jene die andere nicht erfahren sollen, verheimlicht. Es kommt zu Intrigen, und noch schlimmer als Verrat zu gegenseitigen Erpressungen. Keiner traut mehr den anderen. Alle leben bewusst in der gegenseitigen Abhängigkeit das nichts davon an die Öffentlichkeit kommt. Von daher rührt ebenso der Rat, lieber in solch einer Verstrickung leben und arbeiten, als den großen Befreiungsschlag zu versuchen (Klaus Heinrich). Solch ein Rat meint die historische Erfahrung zu spiegeln, die Konsequenzen einer Revolution seien noch schlimmer als was zur Zeit erlebt und durch gemacht wird. Letzteres bescheinigt dann auch das Leben unter einer Diktatur, und wovon es recht verschiedene Arten gibt, die allgemeine Verschwörung gegen die Wahrheit eine besondere davon.

Nicht erstaunlich bei all diesen Entstellungen ist eine literaische Entwicklung. Es kommt am Ende der Lügen zu den Fabeln der Tiere. Beabsichtigt ist eine lustige Wiederspiegelung der Praxis Geschichte zu verfälschen, zugleich im Widerspruch dazu eine Annäherung an die Wahrheit zu ermöglichen. Orwell mit seiner 'Farm der Tiere' (animal farm) ist deshalb ein gutes Beispiel dafür. Es verweist zugleich auf die schlichte Tatsache, dass Tiere und selbst ein Esel sich niemals so sehr in Lügen verwickeln, wie das die Menschen geneigt sind zu tun. Der Vergleich mündet in einer Analogie die widerlegt sein will, insofern das Gleichnis Mensch-Tier hinterfragt wird.

Der Mensch unterscheidet sich vom Tier in vielerlei Hinsichten. Insbesondere aus Angst vor Konsequenzen richtet sich der Mensch im gewohnten Gang der Dinge ein. Der Philosoph Hume ging so weit und erklärte 'Gewohnheiten' seien die wahre Souveränität der Menschen. Er meinte damit eine besondere Ökonomie denn wenn die Menschen sich selbst beherrschen, benötigt die Herrschaft nicht einen allzu großen Machtaufwand z.B. ein größerer Polizeieinsatz kostet schließlich sehr viel mehr Geld. 

Die Menschen richten sich nach Gewohnheiten ein, um dem Leben eine gewisse Gesetzmässigkeit oder Regelmässigkeit zu verleihen. Aus diesem Grunde vermeiden sie Risiken und ungewohnte Wege. Sie tun das im Gutdünken nicht die eigene Existenzgrundlage zu gefährden. Obwohl das keiner 'praktischen Weisheit' entspricht, beherrscht das Gewohnheitsdenken die meisten Menschen. Es fehlt ihnen die Mut zum Heraustreten aus einem System welches ihnen anscheinend Sicherheit gibt. So entstehen mit der Zeit verkehrte Welten.

Ein Aspekt der nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der Politik dominiert, ist die generelle Neigung sich an der sogenannten 'blame culture' zu beteiligen. Schließlich haben immer die anderen Schuld. So kommt es zu keiner aufschlußreichen Analyse was wirklich der 'Fall' ist, sondern alles vereinfachende Erklärungsmuster machen sich überall bemerkbar. Geht etwas schief, haben immer 'die Politiker' Schuld. Adorno meinte dazu solche Meinungen würden sich deshalb sehr schnell verbreiten, weil eine Lawine der Dummheit über alle hinweg zu rollen scheint. Genau davon geht Bloch aus wenn er feststellt wie weit verbreitet die 'Sklavensprache' heutzutage noch ist.

Bei den Räubern von Liang Schan Moor handelt es sich aber nicht um dumme Strolche, schlaue Diebe oder sogar hinterlistige Mörder, sondern um aufrechte Männer. Sie arbeiteten zuerst noch als ehrliche Beamte im Staatsapparat, wurden aber allerdings von dort vertrieben. Es kam noch schlimmer. Wegen den Intrigen korrupter Beamten mussten sie um ihr Leben fürchten und deshalb in den Busch fliehen. Dort lernten sie ihr Leben zu verteidigen. Sie taten sich zusammen und bildeten die berühmte Liang Schan Moor Bande, die imstande war selbst die kaiserliche Armee zu schlagen. Noch mehr, sie kamen zur Einsicht, dass sie selbst auf das Einhalten von Recht und Gerechtigkeiten achten müssen. Ansonsten, so ihre berechtigte Furcht, würden sie den rohen Sitten verfallen und deswegen riskieren nicht nur anderen, sondern auch sie selbst gegenüber ungerecht zu werden.

Mit der Zeit kam noch etwas anderes hinzu. Solange sie nur im Busch aushaarten, fühlten sie sich von der normalen Gesellschaft ausgeschlossen. Insgeheim warteten und erhofften sie doch auf den Zeitpunkt, dass der Kaiser von China bereit war ihnen gegenüber Gnade walten zu lassen. Schließlich waren sie ungerechter Weise verstossen worden. Sie haben sich anschließend nur zur Wehr gesetzt.

Solch eine Gnade entspricht aber einer allgemeinen Amnestie. Sie erfolgt der tieferen Einsicht, der Mensch lebt niemals alleine und darum ist er letzlich von der gesellschaftlichen Anerkennung abhängig. Integrations-Fähigkeit aber auch das Mensch-sein ist zwar eine komplexe Angelegenheit, aber bereits Sokrates erkannte diese Abhängigkeit als er statt ins Exil zu gehen, das Verbleiben in der Gemeinsamkeit vor zog selbst wenn es den Freitod für ihn bedeutete. Ohne dieser sozialen Anerkennung kommt die menschliche Würde nicht wirklich zum Tragen bzw. Vorschein.

Welch eine Bedeutung der Gnade zukommt, das konnte anhand des Umgangs des Staates mit der Baader-Meinhof Gruppe beoachtet werden. Als der Schriftsteller Heinrich Böll sich für ein 'freies Geleit' für Ulrike Meinhof aussprach, noch ehe zu spät, es zu keiner Versöhnung mehr zwischen der Baader-Meinhof und der Gesellschaft kommen würde, gab es einen entsetzlichen Aufschrei als habe er das Schlimmste getan. So erfuhr Heinrich Böll das Gegenteil. Statt Anerkennung kam die Polizei, um sein Haus vier Mal zu durchsuchen, und dies im Verdacht er würde Terroristen bei sich verbergen. Auch Antje Vollmer als Abgeordnete der Grünen griff diese Geschichte der Räuber von Liang Schan Moor auf und versuchte den Staat auf diesen Weg hin zur Vergebung, zur Gnade, zu bringen, allerdings vergeblich. Der Staat der damaligen Bundesrepublik war nur darauf besessen die härteste Bestrafung zu vollstrecken, und dies im ganz grotesken Gegensatz zum Umgang mit ehemaligen Angehörigen der SS, Gestapo usw. die sich am Unrechtsstaat unter Hitler beteiligt hatten, und bereits nach 1945 erneut in 'Amt und Würde' z.B. der Richter Filbinger zu finden waren.

Es gilt also Gnade als Voraussetzung für die Rückkehr der Räuber in die Gesellschaft zu verstehen. Es hängt mit zutiefst menschlichen Bedürfnissen zusammen. Schließlich wollten die Räuber abermals im Kreise ihrer Familien und Freunde friedlich leben, also gaben sie niemals diesen Traum auf. Doch das zu erlangen ist niemals leicht. Es setzt vor allem einen aufrechten Gang voraus, denn nicht jedem wird solch eine Gnade zuteil. Zugleich setzt das auf Seiten der Herrschaft und Macht die Bereitschft voraus nicht stets nur Bestrafung zu verlangen, sondern eher Milde walten zu lassen. Das verlangt eine politische Weisheit die selten in einer Welt rauher Töne vernommen wird. 

Die Geschichte der Räuber von Liang Schan Moor endete nicht nachdem sie die Gnade von seiten des Kaisers erhielten. Es lauerten immer noch ihre Feinde in den Seitengemächer der Paläste der Macht auf sie und warteten den entscheidenden Tag ab, an dem sie es vermochten das Leben der in die Gesellschaft zurück gekehrten Räuber nicht nur zu erschweren, sondern ihnen es direkt auch zu nehmen. So kam der Geburtstag vom Kim Sun, den Regenspender, und der Hauptverantwortliche dafür dass der Gerechtigkeitssinn unter den Räubern niemals erlosch als sie noch im Busch verweilten. Sie machten ihm zum Geschenk einen voll gefüllten Weinschlauch, doch das Hinterlistige daran war es handelte sich um einen vergifteten Wein. Nachdem er davon trank und mit bekam er sei im Begriff zu sterben, rief er all die ehemaligen Räuberhauptlinge zu sich, und ehe er ihnen seinen Zustand verriet, gab er allen vom selben Wein zu trinken. Erst nachdem alle ihn herunter geschluckt hatten, goss er ihnen die volle Wahrheit ein. Sie wollten sofort zu den Waffen greifen, aber er hielt sie an und sagte, es sei zu spät denn sie haben vom selben Wein getrunken. Als sie sehr verwundert ihn noch fragen konnten, warum er das tat, sagte er als wir noch im Busch zusammen waren konnten wir unseren Ruf verteidigen, doch nicht mehr, hier und jetzt. Lieber also sterben und nicht diesen Ruf schädigen.

Ernst Bloch, der eher die Welt von Karl May eingeatmet hatte, mochte den Geruch solcher Welten. Er sah in ihnen, dass die kategorischen Verhältnisse nicht einfach nur infrage gestellt werden, sondern es wurde ebenso erkannt, dass die an der Macht nicht immer die Guten, und die da ganz 'unten' nur die Schlechten sind. So begrüßte Bloch es wenn jene die unten waren zu murren anfingen, und nicht mehr sich der Definition 'sie seien die Faulen' schweigsam beugten. Sein poetisch-philosophischer Geist versuchte das jenseits der akademischen, streng philologischen Textwelt realistisch nach vollziehbar zu machen. Folglich sind seine metaphorischen Beschreibungen eine Ermutigung dem Denken in bloß festgelegten Kategorien zu widersprechen. Die Sprache, einmal befreit vom Sklaven-Dasein, verweist auf eine Realität die jenseits einem bloßen Definieren der Begriffe begreifbar wird. Sie beinhaltet sowohl epistemologische Kritik am Begriff als auch poetische Intuition für was wirklich geschieht.

All das hat seinen Grund. Bloch zog im Vergleich zur Legende das Märchen vor weil stets subversiv. Für ihn gilt das Märchen gleich der von Carol Becker beschriebenen Kunst als etwas subversives, weil es in der Phantasie stets weiter arbeitet, also die Dinge nicht bloß wiederholt, insofern der alte Zustand wieder hergestellt wird. Letzteres ist der Fall in der Legende z.B. von der Tochter des Riesens. Sie nimmt sich einfach den Bauer und steckt ihn in ihre Schürze. Als der Vater das sieht, wird er zornig und belehrt seine Tochter anschließend der Bauer beackere unsere Felder von deren Erträge wir Riesen leben. So nahm der Riese den Bauer und stellte ihn zurück aufs Feld, so dass der weiter pflügen konnte. Am Ende der Legende hatte sich nichts geändert. Die alten Verhältnisse waren wieder voll hergesellt. Ganz anders hingegen das Märchen das die Fantasie anregt subversiv weiter an Veränderungen zu arbeiten. Dazu gehören Blochs Meinung nach auch Tagesträume, Träume die beim Arbeiten entstehen. Das geschieht besonders wenn jemand sich bei schwerer, ja zehn stündiger Arbeit nach dem Strand am Meer sehnt.

Übertragen auf derzeitige Verhältnisse, so scheint es als herrsche in der Gesellschaft jene Welt, wie im Roman 'die Räuber von Liang Schan Moor' beschrieben. Es gibt nach wie vor den Konflikt und die Spannungen zwischen ehrlichen und korrupten Beamten, wobei die ehrlichen entweder nicht befördert oder schlichtweg nach wie vor entlassen werden. Dabei geht es nicht nur ums Ansammeln an Reichtümern auf ungerechte Weise, sondern um welche Wahrheiten sollten innerhalb des Beamtentums vermittelt werden, bis es zur offiziellen Darstellung und Implementierung der politischen Maßnahmen kommt? Meistens geht es um den gerechten Bezug auf die Menschen und deren Auffassung von Realität. Obwohl es ums Dienen der ganzen Bevölkerung handeln soll, wird der Staatsapparat der Regel nach dahin umfunktioniert, insofern die da 'unten' vernachlässigt, während jene da oben, nahe der Macht mit Verbindungen zu den entscheidenden Politikern, begünstigt werden. Als ganzes besagt das die Gesellschaft kann nur bei solch einer Politik und einem Verwaltungsapparat beherrschbar bleiben, selbst wenn bei der Lösung bestimmter Probleme und Aufgaben viele andere einfach unter den Tisch fallen und dort ungeachtet liegen bleiben.

In der Geschichte kommt es immer wieder zu Unruhen wegen dieser systematisch verordneten Ungerechtigkeit, doch trifft das leider nur sehr selten auf die Geschichte von Deutschland zu. Es gab nur wenige Ausnahmen. So wagte einst Thomas Münzer im Unterschied zu Martin Luther den Aufstand gegen 'oben' doch auch er scheiterte. Luther hatte sich inzwischen beim Fürsten gerettet. Ernst Bloch nimmt diesen Unterschied ernst und folgerte daraus was die Sklavensprache bis heute auszeichnet.

Es kommt noch etwas hinzu. Anders als beim Verbleiben ganz 'unten', was ferner durch das Ausbleiben eines Aufstandes zementiert wird, kommt es bei einzelnen zu einem Streben nach 'oben'. Sie suchen nicht nur die Karriere, sondern zugleich den sozialen Aufstieg. In Wirklichkeit trägt dies nicht nur zur Aneignung neuer sozialer Kompetenzen, sondern auch zu neuen Inkompetenzen bei (Ulrich Beck). Eine Physiotherapeuten will nach Begabten-Arbitur erlangt durch den sogenannten zweiten Bildungswerk und erfolgreichem Hochschul-Abschluss nicht länger als solches vorgestellt werden, sondern nur noch als Journalisten. Ihre Angst ist es auf alte Kompetenzen angesprochen zu werden, insofern dies ihren alten Status festigen würde.

Das solch eine Angst bzw. Einstellung zu einem asozialen Verhalten beiträgt, ist nicht weniger verwunderlich. Doch praktisch übt sich diese Person in die alt-neue Herrschaftssprache ein. Schließlich passt sie sich den von oben her aufgestellten Normen an, ja unterordnet sich jenen, um die Anerkennung von der Herrschaft zu erfahren. Dadurch wird die alte Hierarchie noch mehr verfestigt und ermöglicht es auf jene die da 'unten' verbleiben, herabschauen zu können. Auf eine subtile Weise festigt das die Sklavensprache. Sie zeigt sich im Vermeiden an menschlicher Solidarität weil nur das getan und gesagt wird, was der Herrschaft dient. Das bedeutet etwas ganz anderes gilt wenn nach 'oben' gerichtet; im Gegensatz dazu was 'unten' der Fall ist, hier erfährt das selbe Wort einen ganz anderen Inhalt. 

Jene Hierarchie die auf unterschiedliche Weise sowohl in der BRD als in der DDR nach 1945 errichtet wurde - insbesondere in der Restaurierungsphase der BRD - wurde von der Studentenbewegung, aber nicht nur in 1968 infrage gestellt. Wem verwundert es das Ernst Bloch sich mit Rudi Dutschke besonders in deren Tübinger Zeit zusammen tat, um sich über den aufrechten Gang des Menschen sowohl philosophische als auch politische Gedanken zu machen? Die Beiden gingen davon aus, ist mal ein anderer, gerechterer Sinn von Gesellschaft hergestellt, dann ist der nicht mehr so einfach zurückzunehmen bzw. aus der Geschichte zu verdrängen. Für Bloch war darum die konkrete Utopie das Restaurant in dem Gäste und Kellner nicht mehr zu unterscheiden sind, weil jeder gleich, rücksichtsvoll dem anderen gegenüber, als Gast behandelt wird. Niemand kam auf den Gedanken die eigene Identität dadurch hervorzuheben, indem er den anderen verneint und deshalb meint, er könne ganz einfach durch den ganzen Saal schreiten: „Herr Ober, ein Bier noch!“

Leute, die sich von anderen abgrenzen müssen, um hervor zu kehren, dass sie jemand seien, reproduzieren höchsten eine Armut an Leidenschaft fürs Leben. Doch die gespaltene Gesellschaft in dieser Hinsicht zeigt sich ebenso in fiktiven Trennungen im Wohnungsbau: da der Privateigentumsbesitzer, dort die Mieter. So verläuft die gespaltene Gesellschaft entlang diesen fiktiven Unterschieden, und das zutiefst bis in die ganze Privatsphäre hinein. Doch in einer Gesellschaft in der sich die einen als etwas besseres als die anderen dünken, die sind außerstande über wahre Unterschiede nachzudenken.

Überdeckt wird dieser Widerspruch mit dem einfachen Spruch, dass „wir doch alle im selben Boot sitzen.“ Skandale werden dabei übertüncht, und Leute, die andere betrogen haben, zu Ehrenmänner der gesellschaftlichen Oberschicht gemacht. Und da Diener, Kellner, Kindermädchen, Krankenschwester, Taxifahrer usw. in Zeiten wachsender Armut und Reichtum gebraucht werden, gibt es keine gemeinsame Sprache, sondern höchstens die Sklavensprache. Dadurch verstricken sich die Menschen in unlauteren Verhältnissen bis die Wahrheit völlig manipuliert, ja noch eher geleugnet wird und sie keinen Grund mehr haben wahre von fiktiven Unterschieden zu unterscheiden. Immer mehr verirren sie sich in ihrer Suche nach Leben weil verfälschte Information auf sie eindringen kann. Am ehesten geschieht das durch die scheinbare Synthese von Reklame und Darstellen von erfolgreichen Modellen im Leben. Letzlich kann keiner mehr dem anderen sagen, was eine wirkliche gelebte, zugleich geliebte Zeit ist.

Ernst Bloch hat nur einen Blick auf die Sklavensprache geworfen aber er schaffte es nicht dieses Thema wirklich auszuarbeiten, obwohl es laut Gerhard Zwerenz ihm enorm wichtig war. Zwerenz stellt sogar die Vermutung an, daß Bloch selber in solch einer Sklavensprache verstrickt war, zumindest solange er noch offiziell Philosophie in Leipzig und darum in der damaligen DDR lehrte. Das hieße, laut Zwerenz, Bloch habe sich selbst als denkendes Subjekt zurück genommen, und nur Philosophie aus marxistischer Sichtweise unterrichtet. Er vertrat zwar nicht die orthodoxe Richtung, aber dennoch hielt er sich an die allgemein historisch vorgegebene Richtung bei seiner Wortwahl.(1)

Inwiefern das stimmt, bliebe dennoch zu unterstreichen, wenn gemessen an den vielen Impulsen die Bloch zu geben verstand, dass er es dennoch vermochte zumindest laut nachdenkend etwas kritisches zu diesem Verhältnis zwischen 'unten' und 'oben' zu sagen. Das wäre dann beste Aufklärung, weil imstande selbst kritisch im Sinne von Freud zu sein.

Er hatte bereits in seiner Wahrnehmung der Kunst deutlich gemacht, worauf es ihm ankäme. Als er nämlich über Bachs Fuge sprach, verwies er auf erste Anzeichen einer aus der Musik hörbar werdenden menschlichen Stimme – keine Selbstverständlichkeit, bedenkt man wie sehr Bach persönlich noch in der damaligen Sklavensprache verstrickt, Briefe an den Herrscher mit 'ihr erlauchter Diener' unterschrieb. Jene Zeit kannte jenes Schema, nicht aber die individuelle Persönlichkeit, eine die imstande ist eine andere als die Sklavensprache zu sprechen.

Hölderlin kannte dieses Schicksal sehr gut. In seinem Empedokles Stück, jene wunderbaren Fragmente, wird ebenso an manchen Stellen die menschliche Sprache sichtbar, aber nur kurz. Etwas wird inbesondere erkennbar als der Herr Empedokles seinen Sklaven fort schicken will, und darum den Sklaven in eine Krise stürzt weil er ohne den Herrn nicht leben kann. Schließlich habe er Haus, Familie, Freunde, ja alles aufgegeben, um nur dem Herrn zu dienen. Es besagt auch Sklaven brauchen konkrete Utopien, nur wegen der einer allzu menschlichen Schwäche ordnen sie sich dem fiktiven Unterschied unter und aus Angst vor der Peitsche verdoppeln sie sogar ihre Anstrengungen, wenn es darum geht, den Herrn nicht nur zu dienen, sondern noch mehr weit übers menschliche Maß hinaus zufrieden zu stellen.

Heidegger hat das sehr gut erkannt und geschickt ausgenutzt, indem er eine subjektiv orientierte Sprache auf der Grundlage eines Herr-Knecht Models, wie bereits von Hegel systematisch dargelegt, als Maske und als Kostüm für eine Verwaltungsstruktur, bauend auf dem Bezirk, für moderne Verhältnisse anwendbar machte: das Prädikat 'gut' für eine Handlung konnte nur dann gebraucht werden, wenn diese Handlung gut fürs 'Gut' war – das Seiende stimmte mit dem Sein insofern überein wann immer der Untertan zum Reichtum des Herrn beitrug. Bei Hegel klang das bereits an: wer nicht arbeite, würde Schaden dem Ganzen zufügen, insofern er nicht zur Vermehrung des Reichtumes beitragen würde.

Auch nach 1945, ja selbst auf der Höhe der Solidarnosc Bewegung vor 1981, war das gespaltene Ich in der Fußgängerzone zu hören: persönlich hatten vor allem viele Ostdeutsche durch die Polen einen menschlichen Umgang kennen gelernt, aber auf sozialer Ebene verlangten sie die Grundstücke ihrer Herrn, also die Güter der Aristokraten in Ostpreußen, zurück. Das zeigt wie schwache Menschen sich mit dem Wohl des Herrn über identifizieren, also jene Herrn von denen angeblich deren Existenz abhängt. Noch heute gilt im Volksmund ein strahlender Himmel als 'Kaiserwetter'. Es besagt dass Volk dünkt dann der Kaiser wird bei solch einem Wetter in bester Laune sein, also ausreiten, und darum das Volk einstweilen von Wutausbrüchen und scharfen Anordnungen verschonen. Das hat zur Konsequenz dass vielen das Denken an andere Menschen verloren gegangenen ist. Dafür besteht anscheinend keine Zeit mehr, und außerdem Sklaven denken, die anderen würden ohnehin auch nur an ihr eigenes Wohlergehen, sprich an den Herrn, denken, so dass sie sich hoffnungslos sich sämtlichen Lügen bzw. Selbsttäuschungen ausliefern bzw. in ihnen sich verstricken, um keine Befreiung zu wagen.

Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der der Erzählung von Frederick Douglass Williams entnehmbar ist. Es handelt sich um einen Sklaven der den Südstaaten von Amerika entkommt. Er berichtet anschließend wie z.B. sämtliche Sklaven zwischen Weihnachten und Neujahr, aber auch am einzigen freien Samstag-Abend, sich nur dem Alkohol als einziger Zufluchtsort hingaben. Dabei war diese freie Zeit, als wenn sie nicht hart arbeiten müssen, die einzige Gelegenheit sich um ihre eigene Erziehung zu kümmern. Aber statt diese Freiheit zu nützen, galt als einzige was anstrebend war sich zu betrinken. Erst später erkannte Williams wie geschickt das vom Sklavenhälter war, Freiheit auf die Weise unschmackhaft zu machen. Die Sklaven verbrachten die restliche Zeit zwischen Peitsche und Angst vor der Flucht. Allemal fühlten sie sich sicherer wenn verbleibend beim gewohnten Gang der Dinge, obwohl eine klare Begrenzung ihrer Freiheit und trotz der Peitschenhiebe des Herrn. Schlimmer schien ihnen jene unbekannte Welt die irgendwo jenseits des Gutes des Herrn anscheinend auf ihre Ankunft wartete, aber die Flucht dorthin ein reales Wagnis, weil sie sich vorstellten die Sümpfe waren voller Schlangen, wenn nicht noch ganz anderen Ungeheuern. Hinzu kamen noch die scharfen Hunde und letztlich auch jene Weiße, die zwar frei, dennoch arm, jederzeit bereit waren die entflohenen Sklaven erneut an ihre Herrn auszuliefern, um dadurch zu etwas Geld zu gelangen.

Mit anderen Worten, ein Sklave hatte mangels Kenntnisse der realen Welt nur eine fieberhafte Angst vor allem, und eben durch diese Angst werden die Mauern nur noch höher, die Ketten schwerer, die Lippen noch ausgetrockneter. Das Aussprechen einer einfachen Wahrheit, direkt, ins Gesicht des Herrn gesagt, wird dadurch unmöglich, weil der Sklave aus Angst vor möglichen Konsequenzen besetzt ist, und darum lieber schweigt oder nur das sagt, was der Herr hören will. Statt Denken herrscht dann ein Gutdünken und Hoffen nicht voll und ganz vom Schicksal getroffen zu werden. Aberglaube begleitet solch eine verinnerlichte Angst vor noch schlimmeren Schicksalen.

Heutzutage treibt das viele dazu beim Lotto mitzuspielen: eine einseitige Abhängigkeit vom Glück, also einem Schicksal das außerhalb der Einflussnahme der Person liegt. Pascal betonte schlimmer als der Alkohol sei das Spielen – 'gambling' auf Englisch. Hier wird die Arbeitsethik völlig absurdum verleitet, also zur Abhängigkeit vom Glück gemacht, weil gleich einem Aufzug der einen plötzlich in schwindelnde Höhe nehmen kann, d.h. aus der Misere des Alltagslebens heraus. Es handelt sich also um eine verfremdete Utopie.

In alten Sklavenzeiten äußerten sich diese Gefühle als bloße Hoffnung. Wenn Händler auf dem Sklavenmarkt ihre Ware musterten, hoffte jeder Sklave für sich nur nicht von jenem gekauft zu werden, der den Ruf in der Gegend genoss ein Sklavenbrecher zu sein. Darum setzt Bloch dagegen die begründete Hoffnung, um aus dem Scheitern zu lernen. Denn aus einem resignierten Zustand heraus kann das System nicht infrage gestellt werden. Es kann auch nicht auf irgend eine Veränderung stillschweigend gehofft werden. Es bedarf das Hinzutreten eines aktiven Widerstands, so dass die schlimmsten Kategorien nicht wie Peitschenhiebe auf den Rücken plötzlich nieder prasseln und Leben nur negativ bestimmt bleibt. Freiheit beginnt mit dem Selbstbestimmen des eigenen Schicksals.

 

Hatto Fischer

 

1. "Ich behaupte, mindestens aus provokatorisch-didaktischen Gründen, um die Fachwelt zu Überprüfungen anzuspornen, daß die nachfolgende Entwicklung des Marxismus, auch bei Bloch selbst, wo der Hegelianismus und Hegelsche Marxismus stärker wurde, die Verschiebung der Gewichte Richtung staatlich-diktatorischer Orwellisierung begünstigte. Für Bloch wr dies auch insofern folgenreich, als er nach 1945 an die Universität Leipzig berufen werden konnte, wo er als Marxist, zwar nicht als orthodoxer, doch als akzeptierbar galt. Und er war es solange, wie er selbst in Leipzig Sklavensprache sprach, was bedeutete, daß er sich als Subjekt, als Philosoph zurücknahm und nur die übliche Geschichte der Philosophie lehrte." Gerhard Zwerenz (1987) "Bloch zwischen Nietzsche und Gorbatschow". Frankfurter Rundschau, Samstag, 11. Juli 1987, s. ZB 3

 

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