Ποιειν Και Πραττειν - create and do

Die Freundschaft im Vergleich zum Fluss

            

 

Im Foto ist zu sehen was alles auf meinem Schreibtisch (ein Geschenk von Britta Heinrich) steht. Michel Foucault würde das als eine bestimmte "Ordnung der Dinge" nennen, allerdings lautet der Titel im Französischen "les mots et les choses", also Wörter und die Dinge.

Zwei Gegenstände ragen hervor. Beim einen handelt es sich um eine Skulptur von zwei sitzenden Frauen auf einer Bank. Sie wurde von Azade Köker gemacht. Beim anderen handelt es sich um einen Abdruck vom Gesicht des Dichters Elytis, der 'Axion Esti' oder 'gepriesen sei' das Leben verfasst hat.

Beim Erzählen, welch ein Bewandtnis zwischen den Beiden besteht, wird sich gewiss meine assoziative Denkweise bemerkbar machen. Die dadurch entstehenden Kluften mögen Dank weiterer Erläuterungen u.a. von Kurt Kreiler überbrückt werden. Wie er richtig feststellt, dazu braucht es aber Dichter als Brückenbauer und auch Übersetzer deren Ursprung womöglich im Fährmann zu suchen ist.

Zwecks weiterer Erläuterung kommen noch zwei andere Fotos hinzu. Sie zeigen den Fluss der durch den Englischen Garten in München in Richtung Isar fließt. Welches Bewandtnis das wiederum zum Foto von meinem Schreibtisch hat, das soll im Laufe der Erzählung deutlich werden.

Die beiden Frauen erinnern mich an eine Theater-Inszenierung von Kurt Kreiler. Damals war Berlin noch geteilt und verdeutlichte Sinn-bildlich was Hegel als Macht bezeichnet hat, nämlich die Fähigkeit das zu trennen was im Grunde genommen zusammen gehöre. Es gab deswegen viele ungenutzte Orte in Berlin West z.B. Straßen die plötzlich vor einer grauen Betonmauer abrupt endeten. Solche Orte waren damals der Anlass für außergewöhnliche Performance. So auch für Kurt Kreiler der in einer Ein-Mann Theater-Inszenierung James Joyces Erzählung von Anna Livia auf einer still gelegten S-Bahnplattform spielte. Er verkleidete sich dabei um zwei Frauen zu imitieren. Die Beiden waren im Stück damit beschäftigt, außer Kleider im Fluss zu waschen, recht eifrig über Anna Livia zu klatschen. Sie wunderten sich wie diese Frau es schaffte so freimütig zu leben? Immer wieder fragten sie sich, wie konnte Anna Livia sich nur so viele Seitensprünge erlauben. Offensichtlich hatte sie viele Liebschaften mit Männern ausgekostet, entsprechend eine große Schar an Kindern erzeugt. Das war für die beiden Frauen um so verwunderlich, weil sie wussten in der erzkonservativen, ja katholischen Gesellschaft war das absolut verpönt. Gemeint sei das freie Leben.

Das Leben von Anna Livia schien den Beiden ganz ähnlich zum Fluss zu sein. Jener hatte ebenso viele Nebentribute die ihn nährten. Außerdem versuchten sich sich vergeblich vorzustellen, wo die Quelle des Flusses analog zur Anna Livias Lebensfreude lag. Nirgendwo war war weder die eine noch die andere zu orten.

Jedes Mal wenn ich also am Schreibtisch sitze und vor mir diese zwei Frau sitzend auf einer Bank sehe, erinnert mich das an Kurt Kreilers Inszenierung der klatschenden Frauen beim Fluss. Azade Köker wollte ursprünglich diese Skulptur einfach wegwerfen, weil nur ein Entwurf. Als bekannte Bildhauerin und Professorin für Kunst, die jüngst in einer Ausstellung in Istanbul ihre neuesten Installationen, u.a. vom Stadtgebilde Allepo, zeigte, hat sie selbstverständlich ihren ästhetischen Anspruch (siehe http://artradarjournal.com/2015/11/27/dissolution-azade-koker-at-elgiz-museum-in-istanbul/) Dennoch bin ich froh, dass diese Skulptur nicht verloren ging, sondern heute auf dem Schreibtisch steht.

Die Skulptur erinnert mich gleichfalls an die Berliner Zeit zwischen 1977 und 1981 als wir jeden Samstag erstmals auf den Markt in Charlottenburg gingen, um anschließend bei Azade in ihrem Atelier vorbei zu schauen. Es lag praktisch um die Ecke vom Markt auf der Pestalozzi Straße. Stets gab es neue Arbeiten anzusehen, viel Tee und eine lustige Unterhaltung insbesondere wegen Fahirs Humor. Er war Azades Mann der leider zu früh verstarb. Azade Köker hat danach in einer Ausstellung in Kreuzberg ihre Tonarbeiten bzw. Skulpturen gezeigt, die unter anderem auch aus einer Serie an Kranken- bzw. Totenbetten bestand. Das konnte als nach spürbare Trauerarbeit wahrgenommen werden.

Die Assoziationen zu den beiden klatschenden Frauen, sitzend am Fluss, bringen mich auf das, was für mich Freundschaft bedeutet. Ohne Zweifel, Freunde kommen nur dann miteinander klar, wenn es so etwas wie eine gegenseitige Achtung und Empathie gibt. Die Freundschaft muss vor allem frei von irgend einer Hierarchie sein, weil nur so sie Anspruch auf Solidarität, Gleichheit und Freiheit erheben kann. Interessanterweise entspringt dieser Anspruch dem Erbe der Französischen Revolution. Nicht das Heroische soll in einer Freundschaft heraus stechen, sondern das was Dante im Unterschied zu Robesspiere verkörpert: in aller Freiheit die Lust aufs Leben zu genießen, ohne jedoch dabei dem Hedonismus zu verfallen. Fair und gerecht zu sein, das ist eine von echter Freundschaft geförderte Kunst zu leben.

Zu bedenken gab der Philosoph des aufrechten Ganges, nämlich Ernst Bloch, dass die Hierarchie (und sei sie noch so flach) das bislang ungelöste, zugleich größte Problem der Philosophie sei. Allein deswegen gibt es sehr selten wirklich gute Freundschaften die im Persönlichen das Glück erfassen, und imstande dialektisch im Sinne von Adorno zu handeln. Das hieße sobald etwas Glück persönlich erfahrbar wird, das ins gesellschaftliche Leben zu tragen. Statt nur im Privaten zu verbleiben, ist eben diese Dimension des sozialen Handelns Ausdruck eines de zentrierten Ichs. Erst dann sind die Freunde imstande die realen Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen.

Außerdem sind alle menschlichen Beziehungen nur bedingt belastbar, da jeder vor eben diesem ungelösten Problem der Hierarchie steht und deswegen eine unbedingte, gleichzeitig freie gegenseitige Anerkennung kaum zustande kommen kann. Fehlt vor allem den Freunden die aufrichtige Mut, jederzeit die Macht da wo sie auftaucht und sich zu behaupten versucht, infrage zu stellen, wird die Freundschaft sehr schnell aus dem "Gleichgewicht menschlicher Praxis" (ein von Dieter Henrich verwendeter Inbegriff des Ausweisen-müssend als seine Antwort auf die Studentenrevolte) geraten.

Noch heute tragen viele Spuren des Scheiterns schmerzhaft weiter. Ähnlich zu den Verwundeten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, schleppen sie sich dahin. Doch keiner will ihnen helfen. Ihre Wunden werden von der Gesellschaft schlichtweg ignoriert. Warum es an menschlicher Solidarität mangelt, ist allein schon aus diesem Grunde wenig verwunderlich. Die gesellschaftliche Reaktion auf Bölls Pladöyer für ein 'freies Geleit' für Ulrike Meinhof machte beispielhaft deutlich, worauf die Staatsmacht achtet, und zwar nicht aufs menschliche Mitgefühl, sondern dass scharfe Trennungslinien nicht überschritten werden. Die Bezeichnung, Denken heißt Überschreiten, ist deswegen umstritten, weil höchst ambivalent.     

All das besagt selbst die besten Freunde müssen mit dem Fluss der Zeit gehen. Keiner bleibt stehen. Stets fließend, der Fluss steht für eine besondere Herausforderung. Sie besteht unter anderem darin, erst wenn all die Veränderungen im Leben des anderen wahr genommen werden, hat die Kontinuität der Freundschaft Bestand und kann durch die Freunde selber vor unnötigen Diskontinuitäten verschont werden.

Ein Fluss kann wiederum Freunde verbinden, ganz egal ob sie Fluss aufwärts oder abwärts leben. Als Strom der Zeit ist der Fluss deshalb ein wertvoller Metapher dafür, was Freundschaft beinhaltet. Insbesondere das Vertrauen in die Freundschaft bleibt über die Zeit erhalten, wenn jeder den anderen in seinen oder ihren Erinnerungen bewahrt. Daraus wird eine Gemeinsamkeit die aus Phantasie und Empathie besteht.

Viele Details in der Wahrnehmung des anderen kommen dadurch jederzeit ins Spiel, vorausgesetzt das gemeinsam erlebte Leben wird nicht geleugnet. Deswegen kommen weitere Voraussetzungen hinzu, ehe aus Freundschaft eine besondere Liebe entstehen kann. Sie ist zwischen der erotischen und der libidinösen (Freuds Unterscheidung mag hier geltend gemacht werden) eine dritte Form menschlicher Verbindlichkeit. Nach wie vor kommt es darauf an, dass statt die Liebe die potentielle Macht über den anderen freiwillig aufgegeben wird. Nur so kann sie außerdem gemeinsam jederzeit in Frage gestellt bzw. herausgefordert werden, insbesondere da, wo sie droht sich völlig ungefragt zu behaupten. Letzteres macht sich als ein sich verselbstständigter Mechanismus bemerkbar. Z. Baumann bezeichnete ihn jüngst in seinem Aufsatz zum ambivalent gesetzten Sicherheitsbegriff als automatische Reflexe die eine allgemeine Ohnmacht verraten. Dem kann nur entgegen gesetzt werden, dass nichts selbstverständlich ist, vor allem das eigene Selbstverständnis (Adorno).

Da Macht außerdem den einen oder den anderen in die Flucht schlagen kann, kommt es darauf an, dass diese Liebe aus Freundschaft auf einem wichtigen Grundsatz basiert. Jener kommt zum Ausdruck wenn dem Fliehenden zugerufen werden, "bleibe, und werde endlich Mensch!" 

Leider entziehen sich viele allzu gerne einer direkten Herausforderung des Selbst eben dieses Mensch-sein zu praktiziere. Interessanterweise meint Ai Wei-wei, es käme nicht darauf an, Produkte bzw. Kunstwerke herzustellen, sondern sich menschlich zu verhalten. Das erfordert das Auffinden solcher Orte wo neue Fragestellungen einem bewusst werden.

Es kommt noch etwas dem hinzu. Im Handeln in Erinnerungen des anderen wird das soziale Seiende verbindlich reflektiert wenn daraus das, was man beabsichtigt zu tun, vorstellbar, demnach abfragbar für den anderen wird. Hier  besteht eine philosophische Verbindung zu was Kant aussagen wollte, als er meinte,  "ich denke, ich kann überall hin die Vorstellungen begleiten". Abgesehen davon dass Kant feststellen musste, dies gelingt ihm nicht, weil dieser Vorsatz an strukturellen Widersprüchen scheitert. Allzu oft trennt sich die Person vom denkenden Ich ab und wird folge dessen von den Vorstellungen abgeschnitten, so dann wirkt die die Menschen trennende Realität als sei sie nicht länger hinterfragbar. Solange all diese fatale Trennungen die Herausbildung echter Freundschaften schwer belastet, wenn nicht sogar verhindern kann, begleitet die Freundschaft mehr als nur ein Schatten des schicksalhaften Lebens. Sie kommen nur davon frei, indem sie sich gegenseitig ihre Ohnmacht zu vermitteln verstehen. Dadurch dass sie sich eine Phantasie-volle Vorstellung von einer gestaltbaren, weil lebbaren Realität unmittelbar zugänglich machen, geschieht auf der Vermittlungsebene eine Umkehrung. Statt die Reduzierung des anderen auf nur ein niedriges Sprachniveau fortzusetzen, fördern sie sich gegenseitig, indem sie ein differenziertes Auffassungsvermögen zum Ausdruck bringen.

Womöglich war Uwe Johnson einer der wenigen Schriftsteller der das verstand. In seinem Roman 'Jahrestage' vergaß er niemals den Menschen. Er beschrieb wie bestimmte Personen die unterschiedlichsten Phasen der Geschichte durchliefen u.a. sich den Bedingungen in der Weimar Republik, dann im Faschismus und zuletzt im Kommunismus in der DDR entsprechend anpassten, aber dabei klammerte er niemals die menschliche Dimension aus. Aus solcher einer Wahrnehmung entsteht die Empathie. Sie ist eine Kunst des Einfühlens und folgt intuitiven Deutungen. Letzteres ist was das Begleiten des anderen erst möglich macht.

Praktisch geschieht das wenn die Brücke über den Fluss endlich steht. Schließlich gilt es den Fluss als ständig sich verändernde Bewegung zu überqueren, um den Freund am anderen Ufer wahrzunehmen. Folglich steht die Brücke fürs Übersetzen sowohl im praktischen als im übertragenen Sinne. Zum Beispiel sei an die verschiedenen Variationen einer besonderen Brücke in der Malerei von Van Gogh zu erinnern. In einem huscht eine schwarz gekleidete Frau über eine Ziehbrücke, im anderen Bild derselben Brücke fährt soeben eine Kutsche rüber. Vielmehr kann zu diesem Thema gesagt werden, aber Deutungen der Brücke erschließen sich über weitere Interpretationen. So wurde in dem von mir gestalteten Poesie-Workshop in Wroclaw am 14 Mai 2015 behandelt, welch eine schier unerschöpfliche Thematik die Brücke als Metapher sein kann. (Siehe Poetry Workshop: the Bridge Olawski - Hatto Fischer)

Hinzu kommt, dass die Freunde immens dazu beitragen, dass wir uns selber gegenüber treu bleiben. Sie unterstützen uns dabei nicht den ethischen Anspruch aufzugeben. Das grenzt sich von nur pragmatisch bedingten Lösungen ab. Die Suche nach wahren Lösungen beginnt damit sich selber gegenüber ehrlich zu sein. Husserl nannte das die schwierigste Aufgabe der Philosophie. Aber die Suche nach Wahrheit verlangt weitaus mehr. Sie verlangt einer echten Freundschaft einiges ab. So muss sie imstande bleiben das sogenannte Selbstverständnis jederzeit als etwas reflektierbares zugleich hinterfragbares vermitteln zu können. Nur so kann sie der falsch auferlegten Metaphysik widersprechen und die Gesellschaft bereichern, indem sie mit Nachdruck Kultur als Suche nach Wahrheit stärkt.

Griechenland in seiner Beschaffenheit als Krise offenbart genau dieses zähe Ringen um eine ehrliche Kultur ist keine Selbstverständlichkeit. Erst wenn der allgemeinen Korruption nicht nur Einhalt, sondern auch die Stirn geboten wird, kann echte Freundschaft den Verfall in Formen des Klientelsystems und des Nepotismus vermeiden. All das gehört wiederum zum Verstehen von Widerstand wobei die Diskussion im Literaturhaus in Berlin im November 2015 über den Schriftsteller Stratis Tsirkas auf eine Verwandtschaft mit Peter Weiss und seinem Roman 'Ästhetik des Widerstands' verwies. Denn eine Freundschaft ohne Sensibilität für was der intellektuelle Anspruch auf Wahrheit beinhaltet, und das hieße auch eine Überwindung eines falschen Widerstandes der wiederum keine Wahrheit hochkommen lassen will, kann gar nicht die wirkliche Gratwanderung in schwierigen Zeiten nachvollziehbar machen. Am Ende würde sie nicht nur aufs gegenseitige, sondern aufs allgemein gesellschaftliche Unverständnis stoßen, und letztlich ebenfalls an einer Pervertierung von Liebe in Hass und Eifersucht scheitern.

So fördert eine gute Freundschaft die Suche nach Wahrheit die wiederum eine Integrität voraussetzt. Stets bedarf dabei die Verbindung von menschlicher und gesellschaftlicher Verbindlichkeit eine intellektuelle Redlichkeit die sich nicht im Netz verschiedener Verstrickungen mundtot machen lässt. 

Eine echte Freundschaft trägt dazu bei, dass wir auf einem wahren Kurs bleiben und nicht davon abweichen, selbst dann wenn wir vor schwierigen Entscheidungsfragen stehen.

Aristoteles bezeichnete einen guten Freund als denjenigen der es nicht scheut einem die Wahrheit zu sagen und deswegen einem von bestimmten Handlungen abrät, weil imstande die negative Konsequenzen voraus zu sehen, und sei es diese würden erst in zweihundert Jahren sichtbar werden. Eine Freundschaft endet deshalb nicht in diesem Leben. Eher befreit sie einem von der Angst sich zu verlieren und lässt einen in die Fluten des Flusses springen, weil der Freund samt seinen Erinnerungen einen wieder ans trockene Ufer zurückzuholen vermag. Daraus entsteht ferner ein Sinn für die Kontinuität des Lebens. So kann jeder es wagen sich in der Menschenmenge, ja im dichtest Gewühl an Menschen zu verlieren, der wird sich selber wieder finden, eben weil der Freund zu ihm steht, ja auf ihn wartet. Auf diese Weise wird die eigene Identität nicht nur auffindbar, sondern selbstbewusst erlebbar sein.

Der murmelnde Fluss verbindet also die Freunde die Fluss-abwärts oder aufwärts leben. Das Interessante am Fluss ist im Unterschied zum Meer nicht von Flut und Ebbe bestimmt zu sein, sondern als Strom gleich dem Leben fließt er nur in eine Richtung. Auch der Mensch kann wie der Fluss nur in eine Richtung der Zeit heranwachsen, gehen, leben, und Abschied vom Leben nehmen. Doch der Fluss als fließende Erinnerungen macht aus der Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine lebhafte kulturelle Synthese. Sie zeigt auf welch eine qualitative Verbindung zum Leben der Mensch Dank der Freundschaft eingegangen ist. Das Gelingen ist also abhängig von Freundschaften die einen fördern, nicht beschränken auf nur ein geringes Maß. Nelson Mandela fügte dem noch den Rat hinzu, solch ein Gelingen verlangt auch die anderen von der Angst eigener Größe zu befreien.

Da wir alle ständigen Veränderungen unterworfen sind, verlangt es eine Weisheit all die vor sich dahinfließenden und gehenden Veränderungen nicht nur wahrnehmen, sondern auch verstehen zu können. Das Verständnis zeigt sich durch die Art und Weise wie wir auf die Veränderungen reagieren. Es ist also eine Herausforderungen auf all die von statten gehenden Veränderungen menschlich zu reagieren, wobei das Gelingen laut Vincent Van Gogh davon abhängig ist, dass wir es verstehen dabei die Lehre der Proportionalität umzusetzen.

Alles verändert sich also analog zum vorbeifließenden Fluss. Philosophisch fordert das uns immer wieder erneut heraus, nicht nur diese Veränderung wahrzunehmen, sondern auch mit ihnen da zu arbeiten bzw. gehen wo menschlich möglich. Solch eine Einschränkung ist erforderlich, weil ansonsten der Satz von Marx, "Philosophen hätten nur die Welt interpretiert, es käme darauf an sie zu verändern", sehr leicht missverstanden werden kann. Schließlich ist ein heranwachsendes Kind bereits ein Inbegriff von ständiger Veränderung doch sehr selten verstehen das die Eltern bzw. die Erwachsenen. So liegt es an der Kunst die das freie Entfalten braucht, zu vermitteln, worauf es ankommt. Denn das was zu existieren beginnt, weil es eine bestimmte Form angenommen hat, verlangt das Gesetz zur Entfaltung bedarf die der Freiheit von jeglicher Gewalt. Erst dann wird die Form des Existierens Natur und Gesellschaft miteinander vereinbaren können.

Ernst Bloch hob die Bedeutung der Form anhand des Unterschiedes zwischen Wasser und Fluss oder See hervor. Letztere haben eine Form angenommen und existieren auch als vorstellbares Etwas. Unsere Wahrnehmung ist also abhängig von Formen,  ja auch von der Kunst weil imstande Formen zu schaffen und den Dingen Formen zu geben. Dennoch sind die uns zur Verfügung stehenden Formen mittels Sprache sehr stark begrenzt.


  

   Fluss abwärts im Englischen Garten von München

   

   Fluss aufwärts

Allein der Vergleich mit einem vorbei fließenden Fluss, u.a. jener der durch den Englischen Garten in München fließt, sehe ich wie der Fluss viele Formen schafft aber auch gleich wieder auflöst. All diese Formen entstehen wenn das Wasser über eine herausragende Wurzel eines Baumes strömt oder über eine seichte Stelle voller Steine fließt.  Dieses Entstehen und Zergehen an Formen geschieht so schnell, dass wir nicht alles reflektieren können, was in unserer Gegenwart existiert. Darum meinte Ai Wei-Wei in Berlin 2015 - 2018 eben weil wir nicht alles in der Gegenwart sehen, brauchen wir die Fotografie um im Nachhinein mitzubekommen was alles noch wir in der damaligen Gegenwart hätten wahrnehmen können. Daraus geht hervor eine Möglichkeit zur ständigen Vergegenwärtigung insofern es ein Verlangen nach Form annimmt und darum in die Zukunft reicht.

Wann ich also darüber schreibe, was auf meinem Schreibtisch steht, und ich mir das Gesicht von Elytis hinter den beiden Frauen ansehe, dann denke ich an seine Übersetzung von Sapphos Gedichte aus dem alt Griechischen ins neu Griechische. Denn das stellt dar ähnlich zum Fluss eine kontinuierliche Verständigung. Der Fluss als eine ständige Übersetzung vergangener in zukünftige Perspektiven nimmt Kurt Kreiler zum Anlaß diese Reflexion zur Freundschaft wie folgt zu kommentieren:

"wie gut ich dieses Bild des Flusses nachvollziehen kann: er spielt mit den Bildern des Vergangenen uns die Vision des Künftigen zu. Wir haben teil an seinem großen Atem, seiner Bewegtheit, seiner in sich ruhenden Veränderung. Aus einer unbekannten Quelle nimmt er uns auf und trägt uns einer geheimnisvollen Mündung zu. Aber da wir auch mit seinen Ufern zu tun haben, lebenslang, brauchen wir Brückenbauer, Fährleute und Über-Setzer." (Montag, den 28.12.2015)

Mit dieser kleinen Deutung von was gebraucht wird, verändert sich die Auffassung von Freunde. Vor allem Dichter verdeutlichen durch eigene Erinnerungen was durch die Freundschaft erlebbar ist. Kein anderer als Beethoven hat das so klar heraus gestellt. Er nannte die Freunde als die Sterne am Nachthimmel und komponierte darauf ein für alle zugängliches Lob auf die Freundschaft. Immer wieder wird es wichtig sein das ins Leben einzubringen. Nur so kann es weiter gehen. Wir stehen gewiss vor schwierigen Zeiten, aber dafür sind die Freunde da, um auch sie zu bestehen.

Hatto Fischer

Athen 29.12.2015

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