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Jena Rede

Europa in den Schichten meiner Identität

Europe in the layers of my identity - translation into English will follow. HF

Stevan Tontić

Viele Schriftsteller aus Bosnien und der Hercegovina, wie auch Autoren aus anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens, haben seit langem bestimmte Schwierigkeiten mit der gebräuchlichen Identitätsauffassung, und zwar insbesondere, wenn es um die eigene nationale und sprachliche Identität geht. Mit dem gleichen Problem werde auch ich selbst konfrontiert, insbesondere wenn ich erklären soll, dass ich aus Bosnien komme, ein geborener Bosnier bin (aber kein Bosniake), und serbischer Nationalität, wie auch, dass meine Sprache als das Serbische bezeichnet wird und nicht als Bosnische (was für einen Staatsbürger Bosniens irgendwie „logischer“ wäre, denkt sich der nicht eingeweihte Fremde, gleichwohl das Bosnische, nach dem Zerfall der gemeinsamen, serbokroatischen Sprache, heute nur die Nationalsprache der Bosniaken d.h. der moslemischen Bosnier ist). Außerdem bin ich auch ein Christ, natürlich auch ein ehemaliger Jugoslawe, ein Balkanese und ein Europäer, unabhängig davon, dass ich kein Glück habe, in einem der EU-Länder zu leben. Die geistige Geographie, dessen Abdruck ich in mir trage, endet selbstverständlich nicht an der Grenze Europas (ein Gruß an Laotse!). Es würde jedoch komisch klingen, wenn ich hinzufügen würde, dass ich mich auch als „Weltbürger“ empfinde, unabhängig von der Tatsache, dass die Welt zum „globalen Dorf“ geworden ist. Denn ehrlich gesagt, nicht mal im eigenem Lande, das es bis jetzt nicht vermochte, die Kultur einer bürgerlichen Demokratie aufzubauen, bin ich Bürger im vollen Sinne des Wortes geworden.

Die Europäer und andere Ausländer, die mit uns in Berührung kommen, interessierten sich stets zuerst gerade für unsere Identität. Genauer für unsere ethnische/nationale, wie auch religiöse und sprachliche Zugehörigkeit. Gelegentlich wünschen sie sich einfach eine Bestätigung dessen, was sie bereits wissen oder annehmen zu wissen. Nach all den tragischen Ereignissen, dem Zerfall des gemeinsamen Staates, der Änderung des Wertesystems, der Umbenennung zahlreicher Kategorien (sogar der Völkernamen) möchten unsere ausländischen Gesprächspartner für alle Fälle die Sache mit dieser unseren Identität überprüfen. Vielleicht hat sie sich ja auch verändert?

Sie haben Angst, uns womöglich zu verletzen, indem sie uns eventuell dort hin einreihen, wo wir es nicht wünschen oder wo wir wirklich nicht hineingehören.

Die nationale, die religiöse und die sprachliche Zugehörigkeit sollen, einer allgemeinen Auffassung nach, unsere grundlegende und überall gesuchte Identität prägen, den Rahmen unserer Denkweise und unseres Tuns bestimmen, wie auch die Welt unserer Literaturkunst, sogar die „Weltauffassung“ selbst. Die erwähnten drei Zugehörigkeitsstränge legitimieren uns fast vollständig ohne einen „Mehrwert“ in den Schichten unserer individuellen Identität zuzulassen. Falls ein solcher Überschuss oder eine Ablagerung von etwas Anderem dennoch besteht, geht dies in unsere grundlegende, für die Anderen wichtigste Legitimierung nicht ein, denn dort ist für gewöhnlich kein Platz für derlei Spitzfindigkeiten. Darüber kann man eventuell erst in etwas feiner strukturierten Betrachtungen unseren Tuns oder aber unserer Haltung in Situationen, in denen wir auf die Unterschiede oder auf die radikalen kritischen Abweichungen von dem dominanten Diskurs der Nation und des kulturellen und politischen Milieus, zu denen wir gehören, hinweisen. Solche Situationen mehren sich in Krisen- und in Kriegszeiten, wenn der Schriftsteller (wie auch jeder andere in der Öffentlichkeit Wirkende auch), wenn er an sich hält, die eigene kritische Haltung gegenüber einer inakzeptablen, undemokratischen, unter Umständen auch verbrecherische Politik der nationalen Führer und der gesamten politischen Elite zum Ausdruck bringen und legitimieren muss. Die Schriftsteller in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens erlebten und erleben immer noch, jahrzehntelang, insbesondere in den letzten 20 Jahren, solche, sehr unangenehme, gelegentlich auch gefährliche Situationen. Obwohl sie bedrückend und schmerzhaft waren, gaben solche Situationen einem auch die Möglichkeit, eine Position neu zu überdenken und neue Erfahrungen zu sammeln. Ohne diesen zusätzlichen Aspekt wäre mindestens die moralisch-politische Identität der Betroffenen in der Tat in den voraussehbaren Grenzen dreier bereits erwähnter „Säulen“ geblieben, nämlich der ethnisch definierten Nation, der Sprache und der Religion.

Die Sprache ist bei vielen südslawischen Autoren zum größten Identitätsproblem geworden, zum Gegenstand jahrzehntelang andauernder Konflikte innerhalb der ex-jugoslawischer Kultureliten. Der Sprachnationalismus stellt bekanntlich die älteste Form des Nationalismus bei den Südslawen dar.

Während sich Europa vereint und die Welt immer stärker globalisiert wird, betreiben wir auf dem Balkan die Separation in allen möglichen Formen. Hier macht sich der wohl bekannte „Narzissmus kleiner Unterschiede“, wie Freud ihn beschrieben hat, bemerkbar. Schuld daran sind jedoch nicht nur unsere eigenen, narzissoiden und kriegslüsternen Ethnopolitiker und Sprachnationalisten. Durch ihre vorbehaltslose Unterstützung der Erschaffung von kleinen und größeren Nationalstaaten auf dem Boden des multinationalen Jugoslawiens, haben Amerika und Europa objektiv gesehen diesen Narzissmus genährt und damit aus kleinen Unterschieden unvereinbarende Divergenzen gemacht.

Kürzlich brach in Bosnien ein Skandal aus wegen unkorrekter Darstellung der sprachlichen Identität zahlreicher Autoren. Die Nationale Universitätsbibliothek in Sarajevo  hat nämlich die Sprache zahlreicher Buchtitel kroatischer und serbischer Autoren als „bosnisch“ kodifiziert, was scharfe Reaktionen der Betroffenen aus Banjaluka, Mostar, Zagreb, Belgrad hervorgerufen hat. Die betroffenen Autoren lehnen diese Form der bosniakisch-staatsbildenden Unifizierung und Unitarisierung ab, mit der völlig willkürlich und grundlos nicht nur die sprachliche Identität dieser Schriftsteller aufgehoben wird, sondern auch ihre Verbindung mit der kulturhistorischen und geistigen Tradition bezweifelt wird, in der sie, unabhängig von ihrer eventuell kritischen Haltung dieser Tradition gegenüber, sich geistig und kulturgeschichtlich geformt haben – und wo sie, wenn sie ja an anderen Orten zu Fremden gezählt werden, sich irgendwie „zuhause“ fühlen. Sogar dann, wenn sie gezwungen sind, ihr Land zu verlassen, kann die Mehrheit dieser Autoren nicht die eigene Sprache, mit all dem Schatz persönlicher und kollektiver Erfahrung, die in der Sprache bewahrt werden, gegen eine andere austauschen. Viele von uns sind in der Wirklichkeit zerrissen zwischen dem „eigenem Haus“ und „der Fremde“, zwischen unserer balkanesischen Heimat und Europa (Paris, ach Paris!), zwischen nationaler Wertesysteme und dem Traum von Teilnahme an einer „europäischen“, ja gar „Weltliteratur“ wie sie Goethe vorgeschwebt ist – auch wenn es sich hierbei lediglich um schöne ideal-begriffliche Konstrukte handelt. Wir vernehmen aus ihnen einen utopischen Lockruf, der gleichermaßen anziehend wie unrealisierbar ist, die Verlockung eines viel stärker entwickelten, unsäglich reichen Kulturraumes, der auch unsere getrennten, oft zerstrittenen separaten Identitäten umfassen und miteinander versöhnen könnte.

Ich beschreibe diese traurige Situation ausgehend von der Identität eines Schriftstellers aus der Region, in welcher ich lebe; ich tue es auch deswegen, weil unsere Politiker, häufig alle gleichzeitig, am meisten über das eigene Volk und über Europa zu reden pflegen. Alle wollen nach Europa, auch jene, die es nicht schaffen, sich von nationaler Mythomanie, Populismus und Xenophobie zu befreien. Sie ärgern sich über die Europäische Union, die Forderungen stellt, die, so behauptet man, die Dignität und die Identität des Landes und der Nation verletzen. Die Nymphe Europa wird für sie wieder zu der „alten Hure“, wie es nach dem 1. Weltkrieg manche unserer Avantgardevertreter lauthals ertönen ließen – diese einige antieuropäisch gesinnten Dichter, die dem „kranken“, „dekadenten“ Europa das frische, „barbarische“ Blut vom Balkan injizieren wollten.

Auch ich selbst war oft von Europa tief enttäuscht.

Am stärksten Anfang der 90er Jahre, als es den blutigen Zerfall Jugoslawiens zuließ. Ich, wie auch viele meiner Schriftstellerkollegen, die wir uns nicht nur als Serben, Bosniaken, Kroaten, Montenegriner, sondern auch als Jugoslawen gefühlt haben, wir haben der Zerfall des gemeinsamen Staates, der über 70 Jahre lang bestand, auf eine sehr dramatische und verlustreiche Art und Weise erlebt.

Dieses Land stellte für uns eine Art „Europa im Kleinen“ dar, was eine sowohl patriotische wie auch naive Auffassung war. Es stand fest, dass wir seine  große ethnische, sprachliche, kulturelle und konfessionelle Buntheit liebten, von Naturschönheiten und Denkmälern verschiedener Art ganz zu schweigen. Wir pflegten vielseitige Bindungen und Freundschaften, fühlten uns überall im Lande zuhause. Daher konnten und wollten wir es nicht glauben, dass dieses Land, für dessen Errichtung die klügsten Geister aus dem Kreise der Südslawen im 19. und auch im 20. Jahrhundert gekämpft haben, das schlimmste, allen bekannte Schicksal erleiden wird. Und gerade dies ist mitten im Schoße Europas passiert, auf dem Balkan, mit welchem das gleiche Europa heute noch nichts anzufangen weiß. Offensichtlich ist nur, dass Europa, das sich ausbreitet und in eigener Sache Einigung vorantreibt und praktiziert, auf dem Balkan die Vermehrung nationaler Staaten unterstützt (jetzt ist der südliche Teil Serbiens, die serbische Region Kosovo an der Reihe). Die Geopolitik einer balkanesischen Kleinstaaterei, ohne Zweifel, ist hier am Werke. Einige, insbesondere die jugonostalgischen Serben, sehen darin die Realisierung des alten Prinzips „Divide et impera!. Daher ist ihre Liebe zu Europa heute dermaßen schizophren, trotzdem aber hoffen alle auf die Aufnahme in die EU.

Die mythische Gestalt Europas ist nicht ohne Grund die Gestalt einer schönen Nymphe, mit welcher jeder sich gerne abgeben würde. Wen kümmert’s, dass die Nymphe keine Unschuld mehr vorweisen kann!

Nennen wir es einfach Bedürfnis nach einer Begegnung mit dem Anderen und dem Andersartigen, nach Quellen neuer Erkenntnisse und Inspirationen, nach der Erweiterung eigener Horizonte. Es handelt sich schlicht um das Bedürfnis nach einem besseren und schönerem Leben. Kein normaler Mensch ist dermaßen in sich verschlossen, um kein Bedürfnis nach dem Ausbruch aus dem Gehäuse des eigenen Ichs, dessen erste Identitätsschichten bereits durch die Geburt und die Umgebung, in welcher der Mensch wächst, bestimmt werden, zu verspüren. Sogar das, was uns bei den Begegnungen mit dem Fremden und dem Unbekannten abstößt, löscht nicht den Wunsch aus, es kennenzulernen, seine Eigenschaften und die Gründe seiner Existenz zu erkunden. Das ist der Bildungsweg, den wir alle gehen, sonst würden wir geistig behindert bleiben, für immer und ewig in unserer ursprünglichen Identität gefangen.

Ich erinnere mich gut an meine erste Begegnung mit der deutschen Sprache. Das war in der 5. Klasse der Grundschule, als ich zum ersten mal das Deutschbuch aufmachte und auf das Wort „Übung“ stieß. Ich erlitt einen wahren kleinen Schock, der hervorgerufen wurde durch die unbegreifliche Fremdheit dieses Wortes, das an keines der Wörter meiner Muttersprache erinnerte, nicht im geringsten. Zu der Fremdheit dieses Wortes trug insbesondere die Aussprache des Lautes „Ü“ bei, den es in meiner Muttersprache, die lediglich 5 Grundvokale kennt, nicht gibt. Mein erster Gedanke war: dies kriegst du nie in deinen Kopf hinein, diese Sprache wirst du nie lernen. Heute bediene ich mich dieser Sprache relativ gut, ich übersetze deutsche Dichter, beherrsche jedoch das Deutsche nach wie vor nicht in dem Maße, wie ich es mir wünsche. Und doch ist mir diese Sprache seit langem nicht mehr fremd, viel mehr ist es meine Hauptfremdsprache geworden. Deutsche Literatur und Philosophie, sowohl in Übersetzungen als auch im Original gelesen, sind seit meiner Studienzeit außerordentlich wichtig für meine intellektuelle und geistige Reifung gewesen. Jeder, der Philosophie studiert hat, weiß um die einzigartigen und entscheidenden Beiträge der Deutschen auf diesem Gebiet. Kant, Hegel, Marx und Nietzsche (um nur dieses unumgängliche Viergespann zu nennen) haben auf jeden, der ihre Schriften studiert hat, Einfluss genommen, ja gar die geistige Kultur und die Geschichte Europas wie auch der gesamten Menschheit geformt. Und da wir heute in Jena weilen, wo Hegel einen Lehrstuhl hatte, erinnern wir uns, dass er genau vor 200 Jahren seine „Phänomenologie des Geistes“ herausgebracht hat, jene schwer lesbare, jedoch bewundernswert spekulative Geschichte über das Aufkommen des „Weltgeistes“ im Laufe der Geschichte, bis hin zu der vollkommenen Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Jeder, der diesen abstrakte Roman über die Entstehung des Bewusstseins gelesen hat, hat das Abenteuer überstanden, hat heile herausgefunden aus jener kolossalen dialektischen Mühle von Begriffen und konnte hinausgelangen mit einem verändertem Bewusstsein über den Bewusstsein selbst, über den Geist, über die Welt, über Kunst und Philosophie.

Und wo wir schon bei der Philosophie sind, auf meine Generation hat insbesondere die „Frankfurter Schule“ samt ihrer „Kritischen Gesellschaftstheorie“ Einfluss genommen. Marcuse, Horkheimer und Adorno haben uns zu einem freien, radikal kritischen und gar auch subversiven Denken angeregt. Unsere intellektuelle Identität wurde dadurch in ihrer Entwicklung in der damaligen Gesellschaft, die durch die monopolisierte Stellung des Einparteisystems geprägt wurde, entschieden und nachhaltig bereichert.

Die großen Werke eines freien Geistes ändern uns, sie formen neue, wenn auch gelegentlich recht dünne Schichten unserer Identität. Dessen sind wir uns gelegentlich nicht mal bewusst.

Mit großen deutschen Dichtern bin ich noch enger in Berührung gekommen. Rilke, Trakl und Brecht sind für mich drei Glieder der Kette der modernen europäischen Dichtung, aber auch der Weltdichtung insgesamt. Ohne diese Autoren, wie auch ohne Rimbaud, Eliot, Mandeljštam, Lorca, Michaux, Rozewicz, Stanescu und einiger weiterer europäischer Dichter, hätte ich keine Kenntnis von den größten und schönsten Abenteuern in der modernen Dichtung unseres Kontinents. Ohne die aufregende Lektüre ihrer Gedichte wäre meine eigene Poesie mit Sicherheit anders geworden.

Wir sind alle den vielen großen Autoren unseres Kontinents zu Dank verpflichtet. Jeder von ihnen hat uns durch seine Kunst bereichert, uns die Augen geöffnet für die herrlichen und für die schrecklichen Momente des Lebens und die wundersamen Wege des menschlichen Geschicks.

Alle, die aufmerksam Cervantes und Unamun gelesen haben, haben dadurch in dem eigenem Inneren etwas von dem Geist des spanischen Genies aufnehmen können.

Der Leser Puschkins, Dostojevskis und Tolstojs konnte weder von der berühmten „russischen Seele“ noch von der tiefen Einsicht dieser Autoren in ihre Abgründe unberührt bleiben.

Die Leser Sartres und Camus konnten schwerlich eine Art Ansteckung vermeiden durch ihre Ideen, insbesondere was die Auffassung von dem Engagement und der Verantwortung der Intellektuellen für die Lage auf der Welt.

Und so weiter und so fort.

Die Tempel der modernen europäischen Literaturen und Kulturen haben viele tragende Säulen (Wir wollen nicht noch tiefer in die Geschichte eintauchen, bis hin zu Shakespeare, Montaigne, Dante, bis Vergil und Ovid oder bis zu der Wurzel selbst, zu Homer). Es muss an sie gedacht werden, bewusst oder unbewusst stützt sich jeder Schaffende auf sie, jeder Schriftsteller der danach trachtet, aus seinem engen lokalen Milieu auszubrechen, jeder, der bereit ist, zu lernen. Die Schichten oder die konzentrischen Kreise seiner geistigen und seiner künstlerischen Identität zu erweitern.

Das schönste, jedem bekannte Bild konzentrischer Kreise entsteht, wenn flache Steinchen auf die glatte Wasseroberfläche geworfen werden. Wenn ich mein „Ich“ oder das Selbst als ein ruhiges Gewässer (obwohl es oft aufgewühlt ist!) darstellen und es dann mit einem Steinchen in Unruhe versetzen würde, dann würden, grob skizziert, die erst entstandenen, in der Mitte platzierten Kreise, meine serbische sprachliche Identität, mein Bosniertum, mein Serbentum und mein Jugoslawentum, mein (ungebundenes und anarchisches) Christentum verkörpern, während die anderen, immer breiter und umfassender werden Kreise für meine balkanische, europäische und die sich auf die ganze Welt beziehende Identitätskomponente stehen würden. Es sollte jedoch aufgrund dieses Bildes nicht gefolgert werden, dass es zwischen diesen Kreisen zu keiner Interferenz, keinem Dialog und gar keiner Konkurrenz kommt. Denn es existieren viele Bilder und Begriffe, die aus den Kreisen europäischer Kultur, in meine Mitte, meinen Mittelpunkt vorgedrungen sind, wie sich auch im Laufe der Zeit vieles aus eben dieser Mitte verflüchtigt, in Rauch aufgelöst hat. Die Identität jeden lebendigen und aktiven Geistes ist stets im Umbruch, im Prozess des Aufbaus und der Transformation.

Es werden jedoch – der Sprache, aber auch der Thematik wegen – Puschkin stets ein zuerst russischer, Hölderlin deutscher, Kavafis griechischer, Crnjanski serbischer, und dann, Gott sei Dank, auch ein europäischer und ein Weltdichter sein. Selbstverständlich auch dank der Mühe der guten Übersetzer, deren wichtige Arbeit selten genug gewürdigt wird...

Die äußeren Identitätskreise breiten sich prinzipiell in die Unendlichkeit aus, getrieben von dem Trachten des Geistes nach dem Unendlichen und Allumfassendem. Dies ist gleichzeitig auch die grundlegende Tendenz der europäischen Literatur, Philosophie und Wissenschaft, nicht nur nach Hegel und Husserl. Auch Karl Jaspers, über dessen Werk ich in meiner Diplomarbeit geschrieben habe, sprach vom Allumfassenden.

In seinem Essay „Ein vereintes Europa?“ äußert Leszek Kolakowski sowohl die Skepsis als auch die Hoffnung in eine Vereinigung der europäischen Völker. Er erinnert an seinen früheren Text „Die Suche nach den Barbaren“, in welchem er „die Idee des Eurozentrismus verteidigt, auf die Besonderheiten des europäischen Geistes hinweisend, insbesondere auf die Fähigkeit, sich aus eigener Verschlossenheit herauszureißen, auf die Fähigkeit, sich selbst durch die Augen der Anderen zu sehen (sehr charakteristisch für die Literatur der Aufklärung), auf die selbstkritische Distanz beziehungsweise auf die Verweigerung einer endgültigen und dauerhaften Selbstidentifizierung“.

Hier findet sich eine wichtige Formulierung: „die Verweigerung einer endgültigen und dauerhaften Selbstidentifizierung“! Denn der Geist kann sich gar nicht dauerhaft und endgültig mit etwas identifizieren, er kann in Nichts seine Ruhe finden. Das wäre der Tod selbst, die Selbstidentifikation im Grabe. Daher will und kann keiner von uns sich einer restlosen Selbstidentifikation unterziehen. Hier drängt sich das Bild des Rhizoms auf. Im Rhizom der europäischen wie auch unserer eigenen individuellen geistigen Identität sind zahllose Wurzeln und kleinste, sich verzweigende Wurzeln vorhanden, wobei wir dieses Bild der Wurzel auch umdrehen können – in das Bild einer Baumkrone.

Danilo Kiš, dessen Kopf mich stets an eine Baumkrone, einen prachtvollen Strauch, aus dem die Funken des Geistes nur so sprühen, erinnerte, schrieb in serbischer Sprache und war ein „Vollbluteuropäer“. Kurz vor seinem Tode (er starb 1989), das Ende Jugoslawiens wohl ahnend, sagte er, er sei „der letzte jugoslawische Schriftsteller“. Er hat außerdem in einer knappen und für mich persönlich ergreifenden autobiographischen Notiz die Komponenten seiner ethnisch komplexen Identität genannt: das Jüdische, das Ungarische und das Serbisch-Montenegrinische. Außer in Belgrad lebte er lange Zeit in Paris. Beerdigt wurde er in Belgrad, nach dem orthodoxen Ritus, seinem Wunsch gemäß und aus der Dankbarkeit dafür, dass ihn die orthodoxen Serben von dem Massaker gerettet haben, das ungarische Faschisten in Novi Sad während des Zweiten Weltkrieges verübt haben. Kiš war ein Kosmopolit, er verabscheute die Nationalisten, denn einige von ihnen haben ihn stark angegriffen. Den jungen Schriftstellern gab er (unter anderen) diesen Rat: «Trete nicht im Namen deiner Nation auf, denn wer bist du eigentlich, um irgend jemandes Repräsentant sein zu können, außer dein eigener!».

Als ich im Winter 1993 der Kriegshölle von Sarajevo zu entkommen suchte, nahm ich auf dem ungewissen Wege des Flüchtling nach Europa einen Brief von Kiš mit – als Talisman.

Der kosmopolitisch gesinnte tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera, einer von denen, die die Sprache gewechselt haben, lamentiert in einem Essay darüber, dass „das Vermächtnis Goethes“ über die Weltliteratur verraten und vergessen sei. Kundera spricht vom Provinzialismus sowohl der großen als auch der kleinen Nationen. Den großen Nationen, behauptet er, scheint die eigene Literatur reich genug, so dass sie kein Interesse dafür haben, was anderswo geschrieben wird. Die kleinen Nationen dagegen würden eine große Hochachtung der Weltkultur gegenüber empfinden; diese Kultur jedoch scheine ihnen fremd, weit entfernt und unerreichbar, „wie der Himmel über ihren Köpfen“. Eine solche Nation habe bei dem eigenen Schriftsteller die Überzeugung geschärft, er würde nur ihr alleine gehören, keine andere Zugehörigkeit sei möglich. Ein Blick über die Grenzen, zu den Kollegen, die in einem übernationalen Zweig der Kunst tätig sind, gelte hierbei als Eigenbildetsein und als Verachtung der eigenen Kultur.

Ferner schreibt Kundera, dass er, als er nach Frankreich emigrierte, mit Verwunderung entdeckt hatte, dass seine Heimat für die Franzosen praktisch zum europäischen Orient zählen würde. Es gibt in Europa, laut Kundera, Nationen, die in Verhandlungssälen sitzen, und andere, die nächtelang in den Vorzimmern ausharren. Kundera sagt das, nachdem er an das München des Jahres 1938 erinnert hat, an die schändliche Überlassung seines Landes an Hitler. Bei dieser Erwähnung der Verhandlungssäle musste ich mich volens nolens  an die „Verhandlungen“ im Schloss Rambouillet erinnern, denen der Angriff der Nato in Serbien und Montenegro folgte. (Meine Frau lebte derzeit als Flüchtling in Belgrad, ich in Berlin, der Stadt in der ich als Kriegsflüchtling den ersehnten Zufluchtsort finden konnte. Das waren die Tage unserer erneuten, tiefen Enttäuschung durch Europa, obwohl wir selbst gegen das autokratisch-kriminelle Regime des Slobodan Milošević waren. Wir haben aber wegen Milošević und wegen seiner Anhänger nicht aufgehört, uns als Serben zu fühlen, ebenso wenig wie wir wegen Blair, Schröder und Fischer nicht aufgehört haben, uns als Europäer zu empfinden, denn in unserem Verständnis standen alle diese Zugehörigkeiten nicht im Widerspruch zu einander.)

„Gibt es überhaupt Anderes, das nicht das Andere unserer selbst ist?“[1] fragte sich Hans-Georg Gadamer in seinem Buch „Das Erbe Europas“. Weiter lesen wir: „Wir sind alle Andere, und wir sind alle wir selbst. /.../ Und hier scheint mir die Vielsprachigkeit Europas, diese Nachbarschaft des Anderen auf engem Raume und die Ebenbürtigkeit des Anderen auf engerem Raum, eine wahre Schule zu sein.“[2]. Für Gadamer ist „/.../ gerade die Andersheit, die Wiedererkennung unsrer selbst, Wiederbegegnung mit dem Anderen, in Sprache, Kunst, Religion, Recht und Geschichte, was uns zu wahren Gemeinsamkeiten zu führen vermag.“[3].

Es gibt um die 200 Nationen in Europa. Trotz der Achtung des Rechtes der Völker auf Selbstbestimmung glaube ich nicht, dass in der nahen Zukunft unser Kontinent auch soviele Staaten zählen wird. Und wenn es in der Tat einen übernationalen, nicht hegemonistischen „europäischen Geist“ geben sollte, dann müsste er die Fähigkeit haben, alle diese bunten ethnischen Blumen in einem künftigen europäischen Garten harmonisch zu vereinen und das Wuchern einer jeden ethnopolitischen „Blume des Bösen“ vorzubeugen, um letztendlich jedwede Möglichkeit eines Krieges auf europäischem Boden auszuschalten.

Mit dieser Hoffnung wird auch die europäische Identität eines jeden von uns gestärkt. Insbesondere bei uns, die wir in den Vorzimmern der Europäischen Union warten.

Sarajevo, den 5.11.2007

(Vortrag, gehalten anlässlich des Internationalen Symposiums „Europa, das ich meine...“, 28.-29.11.2007, organisiert von Collegium Europaeum Jenense an der Friedrich-Schiller- Universität Jena)

Übersetzt von Vesna Cidilko



[1] Hans Georg Gadamer, Das Erbe Europas, Frankfurt a.M., 1989, S. 29

[2] a.a.O., S. 31.

[3] a.a.O., S.32.

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