Kein Ort. Nirgends - der Nachlass von Christa Wolf
Athen 1.12.2011
Die Nachricht des Todes von Christa Wolf - sie war 82 Jahre alt geworden - erhielt ich im Lande wovon ihr Buch 'Kassandra' handelt, nämlich Griechenland. Dabei sind manchmal die Unterschiede zwischen der Antike und Gegenwart gar nicht so groß wie manche annehmen. Somit stellt sich im übertragenden Sinne die Frage, inwiefern ihre Behandlung der Figur von Kassandra als Ratschlag noch heute gilt? Es ist stark anzunehmen ein jeder hat sich dieser Herausforderung zu stellen, nämlich wie den eigenen Charakter bewahren? Das ist besonders in einer kritischen Zeit gefragt, d.h. wenn der Staatsdefizit und eine unsichere Zukunft viele vor die Frage stellen, was im Prozess der Anpassung an neue Verhältnisse aufgeben, was nicht? Im Falle von Kassandra war selbstverständlich das Dilemma noch verzweifelter, denn die Alternative zum Aufgeben des eigenen Charakters war nur der Untergang von Troja und damit der sichere Tod.
Um es kurz zu machen, Christa Wolf zeigt in ihrem Buch 'Kassandra' das Besondere an diesem Dilemma auf. So gibt der Athener Ratgeber den Menschen von Troja zu erkennen, wollen sie die Athener besiegen, müssten sie so werden wie jene, und zwar ebenfalls heimtückisch, listig, schlau, verschlagen, und vor allem ein Gesetz befolgen. Jenes besagt Bürger und Sklaven sollen strikt voneinander getrennt leben.
Als er das gesagt hatte, beschreibt Christa Wolf ihre Kassandra als jemand die erstaunt aufschaute und dem Ratgeber nur eine Frage stellte: "warum kämpfen wir denn?"
Ja, um den eigenen Charakter zu bewahren, dazu gehört auch die Anerkennung, daß die Sklaven genauso wichtig sind, es also kein gesetzliches Verbot wie in Athen geben soll! In Troja lebten alle im großen Einverständnis zusammen. Jeder konnte sich unter die Sklaven begeben.
Im damaligen Athen wäre das unmöglich gewesen, aber auch in der Gegenwart wollen einige ein ähnliches Gesetz geltend machen. Denn in Zeiten geprägt von Staatsschulden und der Euro-Krise rüttelt da manch einer mächtig am Prinzip 'alle Menschen sind gleich'. Vor allem die Rechten fordern alle Migranten sollten aus Athen entfernt werden. Ihre irrsinnige Vorstellungen von einem 'reinen' Griechenland, also eines ohne Migranten, basiert auf der falschen Meinung nur so weitere Krisen bestehen zu können d.h. die Dinge nur noch 'unter uns' auszumachen. Dabei merken sie nicht wie sehr sie den Begriff Mensch durch jenen Bezug auf ein fiktives Wir verengen, ja sich der Gefahr aussetzen kein menschliches Selbstbewußtsein mehr ansprechen noch erleben zu können.
Diese xenophobischen Kräfte treten in letzter Zeit in ganz Europa verstärkt hervor und versuchen Identitätsbildende-prozesse erneut an 'reine', gleich rassistisch genormte Nationen zu binden. Nichts anderes hatte der Amok-Schütze in Norwegen im Sinne als er Jugendliche auf einer Insel tötete, und meinte dennoch etwas heroisches zu tun.
Ähnliche Gefahr der Ausgrenzung gibt es in Deutschland, denn die inzwischen aufgedeckten Morde der Neo-Nazis an Ausländern in der Bundesrepublik bestätigen diese Form des Rassimus.
Somit ist der Rat von Christa Wolf von seltener Weisheit und Weitsicht wie aber auch zutiefst verbunden mit was Kassandra als Schicksals-Rufende darstellt.
Als dieses Buch erschien, hatte es eine enorme Auswirkung auf die damalige Frauenbewegung im Westen d.h. in West Berlin und in der damaligen Bundesrepublik als noch Bonn Hauptstadt war. Als Christa Wolf damals in der Akademie der Künste ihr Buch vorstellte, war der Saal voller Frauen die sich geradezu in einer ähnlichen Situation wie Kassandra wähnten: wie also gegen etwas unvermeidliches angehen und zugleich den wahren Charakter bewahren, wenn beide Optionen im Grunde genommen fatale Konsequenzen nach sich ziehen?
Christa Wolfs Ausweg ist enthalten in der Beschreibung am Ende des Buches: nachdem die Trojaner durchs Pferd erst ueberlistet und dann von den Athenern restlos besiegt wurden, vermochten nur wenige Frauen zu fliehen. Sie fanden Schutz in Höhlen. Christa Wolf gibt da im sehr kritischen Ton zu erkennen, Historiker würden nicht darauf achten, was die Frauen in der Geschichte alles zu sagen haben, folglich blieb ihnen nichts weiteres übrig als ihre testamonischen Schilderungen in die Höhlenwände zu kratzen. Das erhebt solche Stätten zu Höhlen der Wahrheit. Das Höhlengleichnis von Platon bleibt dabei nicht ausgeklammert sondern erfährt dadurch eine andere Leseart.
Am Bildungswerk für Demokratie und Umweltschutz diskutierten wir 1985-87 oftmals die verschiedensten Mittel die die DDR benutzte um eine für sie günstige Einstellung in der Bevölkerung der BRD zu erzeugen. Literatur wurde dadurch zum erweiterten Kampfmittel. Durch sie soll eine der DDR freundlich gesinnte Einstellung erzeugt werden. Das verbindet sich mit dem Bitterfeldweg wo die Rolle der Kultur neu definiert wurde und folgt Positionen die mit Zensur zu tun haben. Noch komplexer wird das angesichts den Kategorien die George Lukacs in seinen philosophischen, zugleich ästhetischen Schriften entwickelt hatte, um eine programmatische Vorgehensweise in Fragen Literatur zu ermöglichen. In diesem Sinne dürfte der durch die Schriften von Christa Wolf geltend gemachte Einfluss vor allem auf die westliche Frauenbewegung ebenso politisch in der DDR verstanden worden sein.
Allgemein durften in DDR Zeiten nur drei Kategorien von Literatur geschrieben werden, und allesamt bezogen sich auf thematische Perspektiven: 1) anti Faschistische Literatur, 2) Helden der Arbeiterklasse und 3) griechische Antike. Demnach fiel Kassandra unter die dritte Kategorie und wurde genehmigt.
Doch bei allen Schriften von Christa Wolf ist meines Erachtens von besonderer Bedeutung für das insgesamte deutsche Geschehen von Literatur und Anmut ihr Buch 'Kein Ort. Nirgends'. Gerade wurde Kleist in diesem Jahr 2011 geehrt; im Buch selber wird sein Selbstmord in Verbindung mit Günderode gebracht. Das Buch beginnt mit einem sonnigen Tag wo durchs offene Fenster Geräusche aus dem Hinterhof ins große Salonzimmer dringen. Im Salon selber haben sich Schriftsteller, Gelehrte, Wissenschaftler versammelt, um die Zukunft der Wissenschaft und ihrer Bedeutung für die Weiterentwicklung der Gesellschaft zu diskutieren. Günderode und Kleist sitzen aber etwas abseits davon. Sie mögen weder an diesem gesellschaftlichen Gespräch teilnehmen noch vermögen sie es aufzustehen, um rauß zu gehen. Letzlich wird dieses Unvermögen zum Verhängnis der Beiden. Sie werden von Christa Wolf zum Sinnbild einer Unfähigkeit zum konkreten Handeln weil außerstande die sinnliche Welt und die intellektuelle durch eine praktizierbare Liebe zu verbinden. Statt die Kleider vom Leibe zu reissen, um sich heiss und innig zu lieben, denken beide weiter über ihr Schicksal nach und begeben sich damit in die verfängliche Vorstellung ihre Liebe habe in dieser Welt keine Chanze!
Deren Scheitern am Anspruch auf konkrete Liebe erinnert an das Schicksal vieler Dichter und Schriftsteller. Kafka hat das praktisch vorgelebt, insofern er kurz vor der Heirat kehrt machte und statt Liebe zu erleben sich dem Schicksal aussetzte. Bei Hölderlin war das ebenso der Fall. Als der Ehemann seiner Geliebte ihn die Frage stellte, was er vor habe, floh er nach Paris. Es scheint das Viele an einer philosophisch begründeten Begriffswelt scheitern. Sie vermögen es nicht das Existieren in solch einer Welt mit einer konkreten Liebe zu vereinbaren. Kurzum, es scheint als würde stets die sinnliche Gewißheit als Quelle von Wahrheit verneint werden. Wenn ja, dann wäre das dem Wesen nach der Staat selber und dies als Folge der damit einher gehenden abstrakten Bezogenheit von Identität und Gesellschaft. Moral würde so zur Staatsideologie verkommen und Liebe durch den Anspruch in solch einem Staate existieren zu können und zu müssen, verdrängt werden.
In diesem Sinne benennt Christa Wolf mit ihrem Buch 'Kein Ort. Nirgends' ein wesentliches Problem. Sie hat es versucht, und zwar als Schriftstellerin das Warum dahinter literaisch herauszuarbeiten. Dabei hätte sie ebenso Hegel als Beispiel nehmen können. Jener verneinte beides als Quelle von Wahrheit: die Poesie und die sinnliche Gewißheit. Er schloss damit seinen Studienfreund Hölderlin ebenso aus wie Goethe und Schiller auf ihrer besondere Art das taten. Denn statt ihn zu unterstützen, lachten die Beiden über Hölderlins Absicht eine Poesie-Zeitschrift gründen zu wollen, und das nach seiner Rueckkehr aus Paris. Danach entschied sozusagen das Schicksal über Hölderlin. Er verbrachte sein restliches Leben in einem Turm in Tübingen, während seine wirklich erste große Liebe im Alter von 23 verstarb. So gesehen konnte ihre Empathie für seine Poesie niemals die volle Wirkung auf seine Schriften erzielen.
Insofern ist Christa Wolf mit Nachdruck zu lesen als jemanden, die es versucht hat darauf eine Antwort zu geben. Vieles von dem was sie in Worte fasste, zugleich aber auch verschwieg, das kennzeichnet die deutsche Geschichte. Erst nach dem Tode, so scheint es, treffen sich dann wieder die bis dahin unversöhnlich gebliebenen Kräfte. Dafür zeugt unter anderem der Friedhof in Ostberlin. Dort liegen begraben dicht neben einander die alten Streithähne Hegel und Jacobi. Tritt man vom Friedhof wieder auf die Friedrichsstrasse, dann wird einem sofort bewusst die Vorhandenheit einer Wirklichkeit die nach wie vor von der Abtrennung der Begriffswelt von der sinnlichen Wirklichkeit lebt. Somit hat 'Kein Ort. Nirgends' weiterhin Bestand in einer glücklosen Gesellschaft die mehr oder weniger ohne Anspruch auf eine wahre Liebe fortbestehen will, und nur die glücklosen die das versuchen und alsbald scheitern, den wird kurz mal etwas Aufmerksamkeit zu Teil.
Dennoch kann behauptet werden Christa Wolf vermochte es durch ihre Schrifte einige der tiefer sitzenden Wunden frei zu legen, um so in der Gestik ihrer Schriften eine Art Versöhnung zu fördern. Literatur wäre dadurch gleichsam der Bsalm für tiefe menschliche Wunden. Elytis nannte das 'Axion Esti - gepriesen sei das Leben'. Ein Segen wäre es dieses Glück wenn verliebt zur Sprache zu bringen, um zukünftige Generationen vor einem ähnlichen Scheitern zu bewahren. Dazu gehöre aber auch eine Treue zum Wort!
Allein schon deswegen wird Christa Wolf weiter in Erinnerung bleiben, ja in den Herzen vieler Menschen getragen werden wie es so oft und schön in der Romantik heissen kann. Und doch war sie keine Romantikerin, sondern eher eine Realistin ersten Ranges was Weltliteratur angeht.
Das bei allem ein gewisses Misstrauen mitschwingt, das rührt aus ihrer Verbindung zum DDR Staat her. Vor allem betrifft das nicht nur ihre Art Loyalität zur DDR, sondern vor allem ihre 'unheimliche' Mitarbeit bei der Stasi. Für diejenigen die das Machtsystem der damaligen DDR nicht nur kannten, sondern ebenfalls darunter gelitten hatten, da melden sich heute noch erhebliche Zweifel was den Grad der Aufrichtigkeit von Christa Wolf angeht. Es ist eine wichtige Frage die auch bei aller Anerkennung von ihr als Schriftstellerin nicht verstummen wird. Hat doch Horkheimer immerzu aufs Recht zum Misstrauen gepocht. Bei aller Vorsicht, das im politischen Sinne ein 'nie ganz etwas genaues zu wissen' auszeichnet, mag dieser Restbestand von Zweifel ebenso Grund für eine kritische Offenheit gegenueber der damaligen DDR Literatur und ihrem Wirken sein.
Hatto Fischer Athen 1.12.2011
Das Gedicht 'Caves of Truth' sei ebenso eine Erinnerung an ihr Buch 'Kassandra'
Caves of Truth
Curled up are my eyes
In cave like tautologies
Made up of black and white images
Left behind by women whose screams
Historians neither heeded or heard
When they recorded how all fled
The city in the hour of death.
As Christa Wolf writes
All women had to flee for their lives.
Once Troy crumbled
They all sought refuge in caves
Where for lack of any other testimony
They scratched onto walls
Their pains and screams.
That historical evidence remains
Hidden deep inside the earth
Not even to be seen by hawkish eyes
Scanning man's history over time.
There is a double meaning
In any uttered sound of pain
When marked by timelessness
And by an air of definance of all winds
Even though the cave amounts to be
A purgatory of love when left all alone
The women without chance of dialogue.
Since then, in the heat of the day,
The nocturne at angles with the sun
Left eyes blinded by the impact of not the sun
But by those forgotten beauties once reflected
By what they wrote on those walls.
When standing face to face with horrific truths
The earth takes on contours
Like rivers filled with blood
Flowing past imaginary witnesses
Seeing how the river finds the open sea
And from there whatever the wind
can take out to the open sea.
There go the boats even further
Than what is to be seen from distant shores
When adrift, no longer sure, if a harbour
Or just a bell calls people to return home,
Back to the city from where they came
and to which they belong to,
And where, if left in peace the tranquility of the night
Safeguards the sleep of all: women, children
and those men who need no longer weapons
To keep away from others livable truths.
Athens 7.3.2009
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