Die Herstellung einer gerechten Gesellschaft
Seit der Poesie der Antike besteht die Einsicht, dass die Herstellung einer gerechten Gesellschaft kein leichtes Unterfangen sei und deshalb brauchen die Menschen zur Verwirklichung 'Metron' – Maßstäbe - , um zu wissen welche Diskrepanzen zwischen Ziel und realisierbaren Schritten noch bestehen. Mit diesem Wissen können sie auf das Ziel hinarbeiten. Zwecks Motivation und Realitäts-bezogenes Bewusstsein bedarf das der ständigen Vermittlung zwischen dem Möglichen und dem noch-nicht Realisierten (Ernst Bloch).
Dabei handelt es sich nicht um beliebige, sondern es sollen gerechte Maßstäbe sein. Hierin besteht das Dilemma von Erwartung und Anspruch, Realisierbaren und Scheitern. Immer wieder sei daran zu erinnern dass das Herstellen einer gerechten Gesellschaft kein leichtes Unterfangen ist. Aus dieser Einsicht leiten sich ab die anzuwendenden Maßstäbe bei jeder weiteren gesellschaftlichen Entwicklung. Dichter können diese Maßstäbe verfeinern, Philosophen damit praktisch umgehen. Allein die Reflexion um das Verhältnis zwischen Mitteln und Ziel kann der Gesellschaft weiter helfen.
- negative Entwicklungen zu unterbinden ehe es zu spät ist
Die damalige Polis zeigte politische Weisheit. Sie hielt es für eine lebendige Demokratie enorm wichtig keinem die Übermacht zu gewähren. Das heißt frühzeitig Gruppen zu beschneiden noch ehe sie ein Übermaß an Macht erlangen und dann nicht mehr von den anderen in Frage gestellt werden können. Oft genug diskutierten sie den Unterschied zwischen Demokratie und Oligarchie, um zu wissen wie letzteres sie frühzeitig unterbinden können.
Bereits im 6.Jahrhundert bevor Christus warnte Solonos die Reichen und Fetten sie sollen aufpassen, daß ihr Kopf nicht anschwillt und nur leeres Zeug aus ihrem Munde spühlt. (siehe F. Measures of life).
Diese Lehre wird in der heutigen globalen Gesellschaft völlig ignoriert. Durch Steuererleichterungen und sonstigen Privilegien werden die Reichen und Etablierten nur noch reicher und machtvoller im Vergleich zu denjenigen die dicht an der Armutsgrenze zu existieren haben.
- Das Kommen des Fremden
Verwunderlich ist, dass ein Dichter der Antike all das mit dem Kommen des Fremden in die Polis verbanden. Sie fragten sich ob der Fremde die Gesellschaft zurückwerfen wird oder kann er dazu beitragen die Gesellschaft gerechter werden zu lassen?
Der Dichter beschreibt die Menschen der Polis. Sie betrachten den Fremden ambivalent wohl wissend ihre Gesellschaft ist nicht perfekt, aber was können sie vom Fremden an positive Veränderungen erwarten? Der Fremde steht fürs Neue oder noch nicht Bekannte aber auch für mögliche Regression.
Der Dichter endet sein Gedicht mit der Feststellung, dass die Herstellung einer gerechten Gesellschaft kein leichtes Unterfangen ist. Er vermittelt bereits zwischen dem Fremden und was die Menschen der Polis von ihm erwarten können. Zugleich nimmt er vorweg die wichtigste Aufgabe: weil die Herstellung einer gerechten Gesellschaft "kein leichtes Unterfangen" ist, bedarf es gerechter Maßstäbe.
Ein Beispiel für die Reaktion der Menschen auf das Kommen eines Fremden kann aus der Zeit früherer Gesänge genommen werden. Bacchylides, im Fragment Theseus, ein lyrischer Dialog, transformiert die Reaktion der Menschen in ein Wunder das keine andere Alternative erlaubt als zu vermuten „ein Gott muss ihm die Kraft geben“: Wer ist dieser Mann der da kommt? Wer sind seine Begleiter? Ähnlich einem großen Anführer sehr bewaffnet, Oder einer der alleine unter Sklaven herum wandert, Ein Reisender aus weit entfernten Ländern, Machtvoll und wachsam wie er ist, Mit Stärke die so viele geschlagen hat! Gewiss ein Gott muss ihm die Kraft geben, Einer der die Ungerechten stürzt. Kein leichtes Unterfangen war das jemals Um frei von allen moralischen Verfehlen zu sein. All Dinge enden im Strom der Zeit.
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- Kulturelle Adaption
Gesellschaftliche Veränderungen verlangen eine kulturelle Adaptation ans Neue. Jede neue Gesellschaftsformation wird andere Fähigkeiten den Menschen abverlangen, eine Jagdgesellschaft einen feinen Spürsinn, eine landwirtschaftliche dagegen Geduld um mit dem Wechsel der verschiedenen Jahreszeiten mithalten zu können.
Virgil meinte dafür bräuchten die Menschen einen Mythos um sie zu erinnern was wann zu tun sei z.B. wann die Olivenbäume zu schneiden sind. Vor allem mangelt es aber am Selbstvertrauen, um sich individuell und gemeinsam den neuen Herausforderungen zu stellen. Immer wieder werden deswegen wichtige Veränderungen endlos hinaus gezögert.
Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen einem freien Geist eines Homer und den staatlich verordneten Maßnahmen die Virgil poetisch vermitteln wollte. Bis heute kann innerhalb von Europa diese Differenz in der Kultur wahrgenommen werden; während der Einfluss der Antike das ideale Bild der Demokratie evoziert, gilt das Leben im römischen Reich als Vorbild für eine robuste Kultur reflektierbar in Piranesis Darstellung des Gewölbes eines Gefängnisses.
- Homers Maßstäbe und Beispiele
Um so größer die Bedeutung von Homer, der es verstand durch seine Poesie den Menschen Selbstvertrauen in aller Freiheit zu geben. Faktisch vermittelt er durch seine poetische Erzählung von Odysseus einen Maßstab wie lange solch ein gesellschaftlicher Umwandlungsprozess brauchen wird. Odysseus benötigte 22 Jahre ehe er es schaffte nach Ithaka zurückzukehren. Zugleich zeigt er mittels Odysseus welche Folgen solche Veränderungen insbesondere in der 'Techne', also in der Kunst des Überlebens, haben werden.
Adorno und Horkheimer in 'Dialektik der Aufklärung' nehmen das Beispiel von Odysseus und den Sirenen, um die bereits damals schon existierende Trennung zwischen Arbeit und Kunst zu verdeutlichen. Oysseus Mannschaft muss mit Wax an den Sirenen vorbei rudern. Sie hört nicht den schönen Gesang der Sirenen. Odyssey kann das, aber wird verhindert dem verführischen Gesang zu folgen weil an einem Mast gebunden. Seine Mannschaft gehorcht nicht seinen Befehl ihn loszubinden weil sie Wax in den Ohren haben. Sie müssen weiter rudern bzw. arbeiten während Odyssey die Lust erfährt.
Solch eine Trennung zwischen Wirtschaft und Kultur gibt es heute noch mehr als jemals zuvor, wobei Dichter und Philosophen die Gefahr laufen unter sich zu bleiben während die Arbeitenden nur mittels Kategorien der Produktivität angesprochen werden. Marx meinte dazu erst wenn nicht nur die Arbeitenden aber alle mittels einer Sprache die Kategorien sowohl der Produktivität als auch der Kreativität enthält, angesprochen werden, erlangen sie dadurch das 'menschliche Selbstbewusstsein'.
- ethische Prinzipien und Herausforderungen der Zeit: welcher Rat ist gültig?
Homers episches Gedichte verdeutlicht anhand weiterer Beispiele was ist so entscheidend, um Herausforderungen der Zeit zu bestehen. Als Odysseus 'Hades' aufsucht und dort all seine Freunde mit denen er in Troia war, wiedersieht, fragt er wieso sind sie dort gelandet? Alle geben ihm zu verstehen deren Frauen waren ihnen nicht treu geblieben. Odysseus ist hier eine Ausnahme Dank der Treue von Penelope.
Vor allem hebt Homer hervor wie wichtig es ist zu wissen auf welchen Rat solle man hören insbesondere wenn Entscheidungen anstehen. Als Dichter heisst das sich auf die innere Stimme verlassen zu können. Als Kalypsos ihm rät wenn er schon ihre Insel verlassen will, dann solle er sich üppig anziehen und ein Segelboot nehmen wie sich das einem großen Herrn ziemt. Stattdessen sagt sich Olysseus wenn er mit dem Segelboot kentert, dann ziehen ihn die schweren Kleider in die Tiefe des Meeres, lieber also ein Floß bauen und nur spärlich gekleidet sein. Verwunderlich ist außerdem, daß er es schafft ein Floß zu bauen und Seile zu flechten obwohl er niemals zuvor so etwas getan hatte. Die Kunst des Hervorholens an Wissen kommt nicht aus dem Nichts, sondern Homer verweist auf ein Unbewusstsein in dem das allgemeine Können schlummert. Hierbei demonstriert Odysseus wie wichtig es ist alte Praktiken und Weisheiten zu bewahren. Er erinnert sich auf einmal als er in seiner Kindheit unten am Hafen den Fischern zuschaute und einiges mit bekam wie Seile zu flechten sind.
Mit Schlauheit und intelligenter Überredungskunst überzeugt Homer seine Hörer, dass es stets eine Chance aufs Durchkommen gibt. Solch eine Zuversicht ist entscheidend fürs Weiterkommen trotz mancherlei Hindernisse. Hinzu kommt noch was erforderlich sein wird in der neuen Gesellschaftsformation. Damals befand sich alles im Übergang von einer Jagd- in eine Agrargesellschaft. Die neue Formation war noch nicht vom Selbstverständnis her klar, aber eines gewiss: die kommende Agrargesellschaft würde ganz gewiss andere Fähigkeiten den Menschen abverlangen. Ähnlich zum Flossbauen zeigt Homer mittels seines epischen Gedichtes das es darauf ankäme praktisches Wissen hervor zu holen.
- Herausforderungen zur Zeit von James Joyce
Interessant ist es einen Vergleich mit James Joyce und seinem Ulysseus zu ziehen. Ebenfalls wird deutlich ein Zeitmaßstab. Joyce zeigt die Zeit die nötig ist, um eine Veränderungen in der modernen Gesellschaft nachvoll ziehbar zu machen, nämlich 24 Stunden oder einen ganzen Tag. Seine Schreibweise gleicht einer Suche nach praktischer Weisheit und unterstreicht dies ist die schwierigste Aufgabe des 20.Jahrhunderts. Immer wieder stehen Hindernisse im Wege, Hindernisse die aus widersprüchlichen Haltungen entstehen und eine Gefahr bilden, so auch unter anderem der damals aufkommende Anti-Semitismus.
Ausgehend von was im Faschismus in Deutschland 1933-45 geschah, und zwar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wäre die Philosophie gut beraten den Menschen nicht bloß abstrakt als Maßstab zu zitieren. Eher wäre es angebracht mit den verschiedensten Maßstäben zu arbeiten, und zugleich den Bezug zum Menschen nicht aufzugeben. Die Maßstäbe entwickeln ebenso Kinder (z.B. Piagets Beispiel von Kindern die beim Murmeln-Knippsen moralische Begriffe anhand komplexer Spielregeln entwickeln) als auch Erwachsene. Es gilt außerdem die verschiedenen Kulturen und ihre Maßstäbe zu berücksichtigen. Vor allem geben kulturelle Maßstäbe die Vielschichtigkeit menschlicher Möglichkeiten wieder.
James Joyce hatte gewiss seine Zeit in Triest vor Augen als er Ulysses schrieb. Dort erlebte er als Englisch Lehrer am Tag ganz andere soziale Verhältnisse kennen während er Nachts quasi durchs Unbewusste der Stadt streifte. Er vermochte es aufzuzeigen dass ein allgemeines menschliches Selbstbewusstsein das Ignorieren sämtlicher Grenzen und eine Überwindung sozialer Barrieren möglich macht.
Da Joyce Ulysseus noch vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, nahm er vorweg was für gesellschaftliche und politische Folgen es hat wenn einmal dieses allgemeine menschliche Verbindlichkeit nicht mehr besteht. Freud nannte das den Riß der durchs Libido geht und Menschen Gefühlsarm werden lässt. Einstein folgerte darauf Menschen ohne Gefühle, denen kann nicht geholfen werden.
- Poesie als Maßstab
Hier wäre eine Zusammenarbeit mit der Poesie wichtig. Die Dichtung setzt da ganz andere Maßstäbe und kann menschliche Verbindlichkeiten aufzeigen. Um die Poesie als Rätsel zu enträtseln käme es darauf an, dass die Philosophie diese poetischen Maßstäbe zu deuten versteht. Leider ist das allzu selten der Fall. So werden immerzu viele falsche Verallgemeinerung über den Menschen in die Welt gesetzt, um eine fatale Politik, eine die gegen die Menschen gerichtet ist, zu legitimieren.
Bei Maßstab in Verbindung zur praktischen Weisheit gilt es etwas besonderes zu beachten. Ernst Schnabel in seinem Roman 'Ich und die Könige' beschreibt wie der Lehrling von Dädalus versucht den richtigen Abstand der Säulen beim Bau eines Tempels zu messen, doch Dädalus ruft ihn zurück und sagt ihm erst wenn er das Nichts zwischen den Säulen sieht, dann habe er den richtigen Abstand gefunden. Da solch ein sehendes Auge bereits gemachte Erfahrungen voraussetzt, sollten Maßstäbe basierend auf praktischer Weisheit nicht einfach durch die von der Technologie bestimmten Normen ersetzt werden.
- Der Unterschied zwischen qualitativen und quantitative meßbaren Maßstäben
Leider passiert es immer häufiger, dass der Diskurs um Gerechtigkeit basierend auf qualitativen Maßstäben immer mehr durch technisch gesetzte und demnach quantitativ messbare Normen verdrängt wird. So orientiert sich die ganze Gesellschaft am quantitativen Wachstum der Wirtschaft, übersieht dabei geflissentlich, wie wenig das einer gerechten Verteilung dient. Die Verdrängung durch die Technologie geschieht weil nicht länger nur Mittel zum Zweck, sondern sie hat jegliche 'Theorie von Gesellschaft' ersetzt. Technologie bestimmt die Organisationsweise und es zählen nur noch messbare Ergebnisse.
Wegen diesem Ungleichgewicht zwischen Technik und Gesellschaft kommt es nicht zu einer durchgängigen menschlichen Praxis. Darum wird es um so wichtiger sein, Maßstäbe zugunsten einer gerechten Gesellschaft in der Poesie zu suchen. Zugleich müsste die Philosophie sich viel stärker ethischen Fragen widmen als der Fall und sich dementsprechend engagieren. Das geht nur wenn der angewendete Maßstab eben den Menschen Zeit gibt heranzureifen. Cornelius Castoriadis schaffte dazu einen interessanten Reflexionsbogen, als er ein Exposee mit dem Titel "Von Marx zurück zu Aristoteles und von Aristoteles zurück in die Gegenwart" verfasste.
- Der Zeitbegriff
Der Reflexionsbezug von Cornelius Castoriadis macht deutlich wie wichtig der Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. Sie gehören zusammen als eine nicht nur ermessbare, sondern reflektierte Zeitdimension die ein Verhandeln zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit ermöglicht. Der Philosoph Bieri hat ferner zwischen subjektiver, objektiver und historischer Zeit unterschieden, um die Bedingtheit des Erlebens nach diesen unterschiedlichen Dimensionen zu klären. Sartre meinte zusätzlich erst wenn die Ziele der Zukunft einem bewusst sind, kann in der Gegenwart gelebt werden. So kommt es darauf an, dass die Vergangenheit und die Zukunft sich nicht gegen die Gegenwart verschwören und poetisches Handeln aus der Situation heraus effektiv verhindert.
Der Verlust an bewusster Bezogenheit auf die Gegenwart schafft in der ganzen Gesellschaft einen Zustand der die Menschen in eine allgemeine Amnesie treibt. Ohne Dialog mit der Vergangenheit und ohne einer vorstellbaren Zukunft leben die Menschen ohne Gedächtnis in einer illusionären, zugleich endlosen Gegenwart bloß dahin. Sie hinterlassen keine Spuren, und deshalb außerstande noch daraus Narrativen verschiedenster Arten für ihre Identitäten zu schöpfen. Ohne solch einer schöpferischen Qualität im Umgang mit der gelebten Zeit verarmt das alltägliche Leben und bleiben lebendige Impulse für die Politik aus. Ganz einfach fehlen dann der bewusste Bezug auf menschliche Erfahrungen. Die Politik läuft folglich die Gefahr einfach dahin zu treiben weil ohne Orientierung. Dem folgt eines permanente Fixierung auf nur das System um zumindest eine abstrakten Ordnung aufrecht zu erhalten. Faktisch zeigt sich das wenn nicht nur die Politiker, sondern auch die Dichter und Philosophen außerstande sind die reellen Probleme und Sorgen der Menschen anzusprechen. Die Menschen verlieren sich weil sie keine poetische und philosophische Mittel vermittelt bekommen, um die Situation in der sie leben und arbeiten zu verstehen.
- Maßstäbe der Europäischen Union
Jürgen Habermas hat die Europäische Union kritisiert weil die Kluft zwischen politischer Entscheidungsebene und Teilnahme der Bürger einen erheblichen Demokratie-Defizit aufweise. Dabei soll die EU nicht so sehr 'die Einheit in der Vielfalt' betonen, sondern alles daran setzen den sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt zu realisieren. Ausgangspunkt war das Ziel die Ungleichheit zwischen den Regionen in Europa zu überwinden, doch dem sollte eine viel stärkere Bemühung um Herstellung der Gleichheit aller EU Bürger folgen. Ein wichtiger kultureller Maßstab dafür wäre nicht die nationale, sondern die Europäische Identität die auf mindestens zwei, wenn nicht drei Sprachen basiert, um jeden am vielfältigen Leben in Europa teilnehmen zu lassen. Interessanterweise hat dazu die EU eine Nachbarschaftspolitik entwickelt womit sie bessere Beziehungen zu Staaten die noch nicht EU Mitgliedschaft geniessen, anstrebt. Das verändert zugleich den Nachbarschaftsbegriff insofern es sich um Verhältnisse zwischen Staaten handelt.
- Gute Nachbarschaftsverhältnisse
Die Dichter der Antike widmeten sich vor allem menschlichen Konflikten denn ihnen war wichtig gute Nachbarschaftsverhältnisse zu pflegen. Meistens entzünden sich gerade im unmittelbaren Bezug auf den anderen nebenan, also quasi über den Gartenzaun, die größten Konflikte.
Inwiefern die moderne Poesie imstande ist auf ähnliche Weise zu guten Nachbarschaftsverhältnisse beizutragen, ist eine wichtige Frage. Entscheidend wäre zu sehen inwiefern die Poesie überhaupt soziale Beziehungen thematisiert. Zu oft entsteht bei der Gegenwarts-Lyrik der Eindruck als gelte nur das eigene Gedicht als erweiterter Ich-Bezug. Ob überhaupt die moderne Poesie noch imstande ist unmittelbar erlebte Beziehungen zum anderen wieder zu geben versteht, bleibt weitgehend von der Poesie unbeantwortet.
Statt soziale Beobachtungen differenzierter zu fördern, werden eher verhalten beiläufige Wahrnehmungen vorgeschoben. Fast scheint die Gegenwarts-Lyrik als würde sie auf einer Vorstufe zum Dialog stehen bleiben. Dahinter steckt vermutlich eine Scheue vor wirklichen Auseinandersetzungen. So belassen viele Dichter es bei einer indirekten Rede, wenn nicht sogar bei symbolischen Andeutungen. Das gleicht einem Ringen um Bedeutung in einem Leben das wenig Sinn zu machen scheint. Ein vorsichtiger Ansatz endet da wo die Kontakt-Aufnahme mit dem anderen erst wirklich beginnen könnte.
Die feinsinnige Dichterin Krystyna Dabrowska liefert da ein wunderbares Beispiel. Sie ist sich selber überhaupt nicht sicher ob sie ein Gedicht über ihren Nachbarn ohne seines Wissens verfassen soll. Sie fragt sich ob das ihm überhaupt angenehm ist? Ihr Gedicht beginnt mit einer Begegnung mit ihm:
Das Gesicht meines Nachbarn
Das Gesicht meines Nachbarn, des Professors, dessen Frau gestorben ist, ist plötzlich nackt, ohne Schutz. Als ich ihn im Hof traf und er unverhofft offen erzählte, wie viele Dinge ihn an sie erinnern, hatte ich den Eindruck, als sähe ich sein Gesicht zum ersten Mal.
Krystyna Dabrowska
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Ganz anders hingegen mein direkter Kontakt mit einem blinden Mann der auf der Dafnomili Straße in Athen wohnt, und den ich oft beim Vorübergehen sehe. Bewundernswert ist seine menschliche Ausstrahlung und Präsenz in der Straße. Das machte solch ein Eindruck auf mich, dass ein Gedicht von ihm entstand. Es besagt daß er als Blinder weitaus mehr als die anderen während der Krise in Griechenland sieht. Vor allem betrachtet er die Dinge niemals pessimistisch, sondern er verbreitet Zuversicht. Er ist fest davon überzeugt, dass sogar ich als Fremder in der griechischen Gesellschaft meinen Weg finde (siehe The blind man 2012). Das Gedicht gab ich seiner Tochter so daß sie es ihm vorlesen kann.
All das geschieht im Sinne einer guten Nachbarschaft in diesem Stadtteil von Athen, insofern alle im Vertrauen zueinander sich stets freundlich begrüßen und darauf achten wie es dem anderen ergeht. Zugleich lässt sich in der Nachbarschaft leicht beobachten wie die Zeit vergeht. Damit wird die alltägliche Ebene und Finalität von Leben zu einer ständig sich veränderten Synthese in der Wahrnehmung des Unterschiedes zwischen der trivialen und der tragischen Ebene. Die Konfrontation mit der zweiten, oft von Arthur Koestler im 'Akt der Kreativität' beschriebene, kann jederzeit geschehen. Der Tod eines Hundes kann ebenso das tragische Gefühl als eine am Pfosten angefestigte Meldung vom Tod eines unbekannten Nachbarn hervor rufen.
Neighourhood
When lights go on at night, |
Nachbarschaft
Wenn die Lichter nachts ausgehen, und die Träume mit dem Mond hervortreten, dann hören wir Katzen wie sie sich auf den Treppen lieben und wie jemand nebenan die Jalousien runter lässt. Solch eine Lokalität ist ähnlich einem Pinsel der über Erinnerungen an die vergangenen Jahre streift mit noch weiteren Jahren die in Zukunft hinzu kommen, und darum sehen wir Kinder heran wachsen, andere die die Lokalität verlassen während manche der Älteren für immer verschwinden. Wenn dieser Pinsel der Geschichte nur die Augen besänftigen könnte, Augen auf der Suche nach Anzeichen einer Liebe.
Hatto Fischer Athen 30.12.2011
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Solch eine Nachbarschaft erlaubt selbst in einer Großstadt wie Berlin zufällige, weil alltägliche Begegnungen. Der eine geht zur Arbeit während der andere gerade vom Einkaufen zurück kommt. Manchmal diskutiert man zu Dritt was über die jüngsten Sicherheitsvorkehrungen nach den Anschlägen in Ansbach, München und Würzburg zu sagen ist. Jeder vertritt da seine eigene Meinung, der Maler Roger Servais mehr extrem weil als Jude in Berlin er eher von einer Angst bestimmt ist. Aus dieser Vielschichtigkeit in der Nachbarschaft lebt es sich anders als in den anderen Bezirken von Berlin. Nur in Kreuzberg gibt es eine Gemeinschaft die geschlossen sich gegen Gentrifikation wehrt. Gleichfalls existieren da unmittelbare Beziehungen zum anderen doch die sind weitaus mehr von einer bestimmten politischen Haltung geprägt, und das in Abgrenzung zur restlichen Gesellschaft die sich eher in der Mitte der Stadt aufhält und in ihrem Wohlstand mehr auf Konsum ausgerichtet ist.
Wollen Dichter und Philosophen zu friedlichen Lösungen beitragen, müssten sie aus einer ähnlichen Umsicht wie die Dichter der Antike 'poetisch' handeln, sich demnach der Gewalt fern halten und auch keine Gewaltanwendung bejahen bzw. glorifizieren oder sie im Namen einer Ideologie, Religion oder Nation rechtfertigen. Sie müssen ebenso erkennen, dass Gedichte oftmals alleine nicht genügen, um eine Gesellschaft zu befrieden. Sie können aber vermitteln. wäre es um so wichtiger das die bereits von der Gesellschaft anerkannten Dichter das Wort ergreifen und die Öffentlichkeit zur Besinnung bringen.
Definitiv die Poesie Festivals in Medellin verstanden es Poesie in die Gesellschaft reinzutragen und dadurch einen wichtigen Beitrag zum Abbau gefährlicher Konfliktpotentiale zu geben. Die Kolumbische Gesellschaft war über die vergangenen sechzig Jahre bis 2016 in einem gefährlichen Dreieck verwickelt. Gewalt ging aus von den Rebellen, der Militia und dem Staat. Leidtragend war die zivile Bevölkerung. Mittels einer zugänglich gemachten Poesie als unmittelbarer Bezug zum anderen fanden die Leidtragenden einen Art Schutz. Sie lernten miteinander zu kommunizieren, ja ihre unterschiedlichen Bedürfnisse zu übersetzen, um eine weiter gehende Verständigung zu ermöglichen. Der sanfte und rücksichtsvolle Umgang mit den anderen liess die Zuversicht entstehen, dass es auch ohne Gewalt geht.
Es wurde bereits erwähnt der starke Eindruck vom 26. Weltpoesie Festival. Die ganze Gesellschaft schien in Bewegung geraten zu sein und dadurch eröffneten sich für jeden neue Perspektiven. An ein Weiterkommen war zu denken. Junge Leute vermittelten überzeugt, sie würden mit den vielschichtigen Herausforderungen zurecht kommen. Ein Anteil an dieser Befriedigung der Gesellschaft waren gewiss noch andere Faktoren u.a. die Bemühung um einen Friedensvertrag mit Unterstützung der Vereinigten Nationen und Kuba, als auch Investitionen in neue Gebäuden, insbesondere in Museen und öffentliche Bibliotheken. Entscheidend dürfte vor allem Dank der Poesie Festivals eine veränderte Rezeptionshaltung der ganzen Bevölkerung sein. Sobald darauf eingestellt eine Vielfalt an poetische Stimmen zu hören, waren sie bereit auch sich selber zu zuhören.
Eine Vielfalt an Stimmen bringt alle näher einer gemeinsam lebbaren Wahrheit. Michael D. Higgins sprach davon wie wichtig es ist eine Dialektik zwischen öffentlichen Räumen und öffentlicher Wahrheit durch die Kultur als Suche nach Wahrheit lebendig zu halten. Solch eine politisch motivierte Gemeinsamkeit prägt dann ebenso die lokale Nachbarschaft als es einen übergreifenden kulturellen Konsensus bezüglich gemeinsamer Werte schafft.
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