"Die Liebe in den Zeiten der EU" von Björn Kuhligk
Oft schafft es die Literaturwerkstatt in Berlin einen auf bis dahin noch nicht gekannten Dichter aufmerksam zu machen, so auch jetzt in Verbindung mit der Ankündigung, daß bis zum 25. April 2014 noch Kurzfilme für das 7. ZEBRA Poetry Film Festival eingereicht werden können. Diese Filme sollen auf der Basis von Gedichten entstanden sein. Der Wettbewerb ist mit insgesamt 13.000 EUR dotiert.
Relevant zum Kennenlernen neuer Dichter ist ebenso was in jedem Jahr geschieht. Für 2014 lädt das Festival ein, das diesjährige Festivalgedicht „Die Liebe in Zeiten der EU“ von Björn Kuhligk zu verfilmen. Die Regisseure der drei besten Verfilmungen werden dann nach Berlin eingeladen, um dort den Dichter zu treffen. Außerdem bekommen sie die Möglichkeit, ihre Filme vorzustellen und zu diskutieren.
Vollständige Teilnahmebedingungen hier: http://bit.ly/1aje36N
Sodann um welchen Dichter und welches Gedicht von ihm handelt es sich? Laut Ankündigung geht es um folgendes:
"Die Liebe in Zeiten der EU" von Björn Kuhligk
Siehe: http://bit.ly/1aje36N
Die Liebe in den Zeiten der EU
Wie ein Grenzschutz wieder
eine Linie zieht, das muß, es
darf geschossen werden, das
muß, das darf gefilmt werden
wie erdfremd dieser Kontinent
mit Sternchen am Revers, wie der
die Abwehr aufbaut, Mutti macht
noch schnell den Abwasch
als im Süden die ersten Turnschuhe
angespült wurden, später zwei, drei
Zweibeiner gefischt wurden, das muß
es darf zurückgefeuert werden
Björn Kuhligk
* 19.02.1975, Berlin, Deutschland
lebt in: Berlin, Deutschland
"Der 1975 geborene Björn Kuhligk gehört zu den meist beachteten jungen deutschsprachigen Lyrikern. Seine Werke sind nicht nur in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften erschienen, sondern wurden auch in den Einzelerscheinungen „Es gibt hier keine Küstenstrassen“ (2000), „Am Ende kommen Touristen“ (2002) und „Großes Kino“ (2005) veröffentlicht."
Eine erste Reaktion aufs Gedicht kann zugleich ein mögliches Mißverständnis sein, denn sobald das Gedicht als eine zu bekennende Liebe zur EU aufgefasst wird, fällt sofort einem der Brief einer Japanerin nach der Katastrophe in Fukushima, 11.März 2011 ein. Sie schrieb, daß sie bislang ans Teilen von Liebe und darum Glück mit insgesamten Einheiten, so auch die Firma die die Reaktoren betreibt, geglaubt hatte, aber nach dem Vorfall insbesondere mit dem Nuklearreaktor in Fukushima sieht sie ein, daß Glück und Liebe nur mit Personen, also konkrete Menschen, und nicht mit abstrakten Einheiten, sei es Firmen oder Nationalstaaten, geteilt werden kann. Mit anderen Worten, Menschen können sich lieben, nicht aber eine Nation, geschweige die EU kann geliebt werden.
So muss sofort klar gestellt werden, daß der Titel des Gedichtes nicht von einer Liebe der EU ausgeht, sondern etwas anderes impliziert:
Die Liebe in den Zeiten der EU
Nicht die EU sei zu lieben, sondern das Gedicht will etwas aussagen, und zwar wie es um die Liebe zu Zeiten der EU bestellt sei! Das ist also eine ganz andere Auffassung von Liebe, und dennoch wird bereits damit impliziert die EU sei imstande nicht nur die Liebe zu beeinflussen, sondern was dann dem Gedicht zu entnehmen ist, auch zu bestimmen. Es kommt darauf an dabei den Titel als bestimmende Form für den im Gedicht folgenden Inhalt wahrzunehmen. Dabei wird nicht die Ausrichtung von Liebe auf etwas bestimmtes oder auf eine bestimmte Person zum Thema gemacht, sondern mündet es angesichts einem neuen 'Muß' in der Feststellung, 'es darf wieder geschossen werden!'. Also etwas ganz anderes darf getan werden, etwas das ganz und gar nicht der Liebe entspricht. Der Inhalt entspricht darum vollkommen einem Widerspruch zur Liebe, so dann kann die Aussage des Gedichtes wie folgt interpretiert werden: die EU macht die Liebe unmöglich.
Ein Dichter der über die Liebe schreibt, und das in der Form einer politischen Satire (es wird in der Besprechung seine 'halb humorige' Dichtkunst erwähnt), kann es versuchen frei von einer romantischen Sichtweise die heutige Realität von Europe poetisch zu verdeutlichen. Festzuhalten ist allerdings, daß dieser Dichter als Art Richter dabei nicht nur halbe Eindrücke im Bezug auf ganz Europa, sondern eine ganze Wahrheit betreffs dem heutigen Europa, kurzum die EU, vermitteln will.
Wenn poetische Metaphern sich also entlang neu gezogenen Grenzen verdichten, dann gilt es nach Adorno zweierlei zu bedenken: Das Ganze ist das Unwahre, und keine Gedichte mehr nach Auschwitz. Was letzteres betrifft, so zeigt gerade dieses Gedicht eine Befangenheit der Poesie gegenüber der Vergangenheit. Sie kann womöglich noch mit dem Zweiten Weltkrieg gleich gesetzt werden, aber bestimmt rühren die vom Dichter verwendeten Metapher von einer Zeit her als die Mauer Berlin noch teilte. Solch eine Befangenheit ist oftmals Ausdruck einer noch tieferen Gefangenheit, sprachlich gesagt. Vor allem wenn Wörter wie 'Turnschuhe', verkürzte Symbole von Liebe als 'Mutti beim Abwaschen' oder schlichtweg ein Begriff wie 'Grenzschutz' im Gedicht auftauchen, dann drängen sich ebenso Beschreibungen des Friseurs auf, weil aus dieser alltäglichen Sicht der Faschismus eher erkennbar wird. Die praktische Seite des Faschismus im Alltag war ja die Verneinung von Liebe als das Lebendige, und darum das was Erich Fromm aufzeigte, nämlich die Nekrophilität oder die Liebe des Toten.
Nicht nur ein Dichter, sondern ein jeder sollte vorsichtig bei der Verwendung solch sentimentaler Wörter wie 'Mutti' sein, schließlich war es oftmals auf den Lippen der sterbenden Soldaten das letzte Wort. Sie riefen nach ihr, aber dann halt zu spät, um noch eigenes, geschweige das Leben anderer zu retten. Kurzum etwas steht da im Widerspruch zur Liebe einer Mutter, und was für Kontinuität im Leben steht. Gewiss kann diese 'deutsche' Fassung von Liebe, gebunden an Mutti, nicht selbstverständlich auf ganz Europa übertragen werden, und dennoch erhebt gerade da das Gedicht den Anspruch aufs Ganze gehen zu wollen.
Ein poetischer Vergleich kann eine ganz andere Darstellung von Kontinuität verdeutlichen. Da erscheint ein anderer Zeitablauf in einem Gedicht von Ritsos, wenn er beschreibt als die jungen Männer aufbrachen, um in den Krieg zu ziehen, sangen ihnen die Mütter Lieder zum Abschied, und als sie zurückkehrten, sangen die inzwischen zu Frauen gewordenen Mädchen die sie hinterliessen, jene Lieder. Es ist ein Zeitabstand der einen Unterschied verdeutlicht und darum eine Messung der inzwischen gemachten Erfahrungen zulässt. Solch eine Messung fehlt aber in diesem Gedicht denn es richtet sich schließlich nur auf 'Zeiten in der EU!', aber zugleich wird beim Erwähnen von Mutti beim Abwaschen eben auf eine falsche, weil rein sentimentale Kontinuität Bezug genommen.
Wie dann das Dilemma zwischen Kontinuität und Nicht Kontinuität zu verfilmen wäre, insbesondere wenn das Gedicht selber besagt, es darf nicht nur wieder geschossen, sondern auch gefilmt werden - ob der Dichter damit Wim Wender meint der behauptet Europa benötige neue Filme als Propagandamittel um sich besser verkaufen zu können - das bleibt eine Herausforderung für jeden Filmmacher die sich an solch einem Gedicht heranwagt.
Weitere, zugleich kritische Fragen zum Gedicht kommen in den Sinn. Es mag ein Stolperstein sein, wenn ein junger Dichter nicht nur sentimentale Begriffe wie Mutti, sondern eher Klischees als klare politische Bezeichnungen verwendet, weil es dann um eine besondere Befangenheit geht. Schließlich wird der politische Inhalt, und sei es die Entrüstung über diese neuen Grenzen, so vermittelt, als habe es nicht den Sprachverfall im Faschismus gegeben. Es beraubte jedem die Sprache (siehe Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, wenn er das zunehmende Schweigen seiner Mutter beschreibt, so bald die Befehlssprache immer mehr überhand nimmt), so dann vermochte keiner mehr das 'menschliche Selbstbewusstsein' im anderen anzusprechen, weil die Sprache getragen von Kategorien der Produktivität und Kreativität (Marx) fehlte. So verloren nicht nur die damaligen Menschen die Widerstandskraft, sondern auch die im heutigen Europa Lebenden scheint die Liebe zur Versöhnung und zur Aufnahme des Fremden abhanden zu kommen. In diesem Sinn wendet das Gedicht nicht nur einen bestimmten Sprachstil an, sondern beschwört zugleich eine anscheinended Unumgänglichkeit der Transformation vom 'Muß' zum 'Dürfen'. Das wäre höchstens die These einer negativen Kontinuität von Geschichte, also eine Aussage zur Fortsetzung einer negativen Wahrheit, da anscheinend nichts aus der Vergangenheit gelernt wurde. Aber eben im Verlust an Erinnerungen, die ein Zeitabstand ermöglichen würde, erklärt sich die Befangenheit dieses Dichters, denn anscheinend wurde in Europa nichts gelernt.
Dabei schwächen die gewählten Metaphern und Wörter die ansonsten scharfen Eindrücke der Ereignisse entlang Europas Grenzen ab, um das Urteil dieses Zustandes - die Liebe in Zeiten der EU - zu verdeutlichen. Unbeachtet bleibt allerdings was alles ins Schweigen verbannt wird. Es bleibt dann nur noch das Bild des angeschwemmten Leichnams eines Migranten, doch wird das zur bloßen Andeutung, insofern es sich um 'Zweibeinige' handeln würde, um das nicht eventuell mit etwas anderem, z.B. dem Körper eines Tieres zu verwechseln. Darin schwingt einiges weiteres mit. Vermutlich rührt es daher, daß der Dichter sich einer Anerkennung der philosophischen Weisheit von Adorno verweigert, und deshalb eben an dieser strukturellen Befangenheit scheitert.
Heutzutage ist es üblich insbesondere in linken Kreisen diese negative Überzeichnung von Europa zu verwenden, z.B. sie sei inzwischen zu einer festen Festung geworden, und noch schlimmer es darf an deren Grenzen wieder geschossen werden. Gerade bei vielen EU Kritikern ist die Behandlung der Migranten insbesondere im Süden von Europa zu einem festen Kritikpunkt an ganz Europa geworden. Und wer nicht unbedingt dieser Kritik zustimmt, der wird sofort ins andere, also ins reaktionären Lager verbannt. Letzteres unterstreicht um so mehr, daß da noch ganz andere Aus- wie Begrenzungen passieren, und die nur bedingt mit der Europäischen Debatte zum Schengen Abkommen betreffs den neuen Außengrenzen von Europa zu tun haben.
Dabei ist es nicht zu leugnen: es kommt immer wieder, und in letzter Zeit fast täglich vor, das Meldungen verbreitet werden erneut habe eine Anzahl an Migranten vergeblich Europa erreichen wollen, und stattdessen wurden deren Leichen angeschwemmt. Alleine 290 Migranten ertranken vor Lampdusa im Oktober 2013. Es löste ein helles Aufsehen in ganz Europa aus. Selbst der Präsident der EU Kommission erschien in Lampdusa, und der Papst ermahnte zu mehr Menschlichkeit. Dennoch bleibt bei all der berechtigten Kritik oftmals die andere Seite unerwähnt, z.B. wie 20 Leute auf einer kleinen Insel 200 Migranten aufnehmen, oder daß die Küstenwache von Italien im März 2014 allein an nur einem Tag 2000 Flüchtlinge aus dem Wasser zogen, und allesamt sicher ans Land brachten. Vor allem ist es nicht nur eine Frage ob sie Europa erreichen, sondern das viel größere Problem besteht laut dem Bericht der 'Ärzte ohne Grenzen' darin wie mit Migranten insbesondere in Griechenland, aber auch in Italien und Spanien umgegangen wird. Sie kommen in Aufenthaltslager und bleiben dort oftmals unter menschen-unwürdigen Bedingingen bis zu 18 Monaten faktisch Gefangene, und dennoch wird etwas überzogen, wenn die Kritik diese Lager mit Konzentrationslagern gleich setzt - doch das Verlangen nach eindeutiger moralischer Verurteilung ist allemal größer, als der Bedarf nach einer gerechten Beurteilung der Lage. Und selbst wenn ein Dichter übertreiben darf, stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit, also was ist im historischem Vergleich zulässig ohne dabei die praktische Realität zu verkennen?
Vor allem stellt sich die Frage, wie ist das Problem zu lösen, insbesondere wenn der Anstieg an Migranten inbesonders die südlichen Europäischen Mitgliedsstaaten überfordern, während in ganz Europa anscheinend erneut eine Xenophobie aufkommt? Aber das ist kein neues Problem, sagten doch Adorno und Horkheimer im Vorwort zur 'Dialektik der Aufklärung' in 1944 voraus, "selbst wenn der Faschismus besiegt worden ist, dann heisst das lange noch nicht das Problem der Xenophobie sei damit gelöst." Also geht es um mehr als nur einen übertriebenen Fremdenhass, und einer Extremen Rechte die dazu auffeuert Jagd auf die Fremden zu machen. Denn das Problem bestand noch bevor die EU gegründet wurde. Hinzu kommt, daß es noch andere Wahrnehmungen des Fremden gibt. So ist an den Wänden von Athen folgender Spruch zu lesen ist: "in einer Gesellschaft der Bosse sind wir alle Fremde!" Kurzum, das Problem liegt noch woanders, und ist viel tiefer in der Psyche begraben. Außerdem erinnern die Dichter der Antike daran, daß der Fremde beim Betreten der Polis immer mit großer Erwartung begrüßt wurde, schwang doch die Hoffnung mit, er könne dazu beitragen eine gerechte Gesellschaft herzustellen.
Definitiv im Gedicht 'Die Liebe in den Zeiten der EU' spielen die verwendeten Metaphern eine entscheidende Rolle, um die Situation auf eine bestimmte Weise zu bezeichnen. So spielen 'angeschwemmte Turnschuhe' gleichsam eine Rolle in Costas Gravas Film. Jener zeigt etwas das über das Schicksal vieler Flüchtlinge, die tot an der griechischen Insel von Lesbos angeschwemmt werden, hinaus geht. Der Film von Costas Gravas reicht bis nach Paris, wo alles in einem Betrug müdet. Damit wird das Versprechen wahrhaftig in Europa leben zu wollen, noch anders, ja viel heimtückischer als im Gedicht hinterfragt.
Kurzum mag es inzwischen stimmen: allem Anschein ist Europa nicht mehr das, was es zu sein versprach, als die EU gegründet wurde. Dennoch aus dieser Enttäuschung heraus wäre noch etwas anderes zu erwarten, als das Aufgeben der Liebe.
Wie wichtig das nicht Aufgeben ist, dazu sagt insbesondere Michel Foucault: "wir müssen die Orte des Schweigens ausfindig machen, noch ehe der lyrische Protest sich darüber verdichtet." Es gilt also den 'politischen Protest' per Gedicht zu vermeiden, so dann soll eine stellvertretende Kritik an ganz Europa nicht noch mehr als was bereits der Fall ist zum Schweigen bringen. Schweigen passiert wenn nicht mehr das menschliche Bewusstsein angesprochen wird, und stattdessen eine Verneinung von nicht nur der wohlmeintlichen politischen Situation, sondern von ganz Europa sich zutiefst fest setzt bzw. einnistet, und im Glauben dabei aufrichtig ehrlich zu sein, nicht mehr der Liebe das Wort gibt, um die Suche nach einer Lösung zugunsten des Migranten zu stärken.
In 'l'histoire de la folie' (Geschichte des Wahnsinns) beschreibt Foucault die Auseinandersetzung zwischen Schweigen und Gesellschaft. Es ist eine Folge des vorherrschenden Denkens im 19.Jahrhundert, in dem der Vater nicht mehr mit dem Sohn spricht, sondern ihn zum Repräsenten der Vernunft, nämlich den Psychiater, schickt. Gegeben das einfache Prinzip was nicht der Vernunft entspricht, sei krank, wird dadurch der andere stets ausgegrenzt und eingesperrt. Schweigen bedeutet dabei keine Rückmeldungen zu erhalten, also darum ohne jegliche Identität die darauf beruht, daß andere einem antworten, ja vor allem die Anerkennung, Mensch zu sein, frei geben. Denn nur so findet jeder zur gemeinsamen Sprache die noch offen für den Fremden und seiner Verwendung von Sprache ist, sagte doch Adorno Fremdwörter sind die Juden der deutschen Sprache.
Sodann gilt noch etwas weiteres zu bedenken. Denn wenn "wieder" Grenzen gezogen werden dürfen, sei an was Kapuscinski im "Imperium" fragt als er die Grenzen der ehemaligen Soviet Union überquert, zu erinnern: wie viel Stacheldraht musste damals produzieren werden, um solch Grenzbefestigungen errichten zu können? Viele verfingen sich darin beim Versuch solche scharfen Grenzen zu überqueren. Da gab es etliche Vorfälle entlang der Berliner Mauer als die noch stand und auf der Ostseite scharf bewacht und deshalb auch geschossen wurde falls es einer versuchen wollte. Solche Erinnerungen sind tief in der kollektiven Psyche vergraben, kein Wunder also wenn sie in solch einem sensiblen Gedicht erneut auftauchen, und das angesichts der Gefahr, daß ganz Europa ebenfalls ähnliche Grenzen zieht und neue Schutzmauern aufbaut. Die Analogie zu vergangenen Erlebnissen entlang Grenzen wird dadurch erkennbar indem ganz Europa als 'Festung' begriffen wird.
Zurück aber zur Liebe, denn sie will ja solche Grenzen überwinden. Bei Bloch lautet das ganz einfach: 'Denken heisst überschreiten'. Ähnlich bei Foucault: die Macht zum Überschreiten ist eben ein Ausdruck von Macht. Nur was hat das mit Liebe zu tun, wie im Titel dieses Gedichtes angekündigt?
Klaus Heinrich war der Meinung innerhalb bestehender Institutionen gibt es immerzu Geschlechterspannungen, die jeder aushalten muss, um darin zu bestehen. Von daher kann die Liebe sich auch verorten bzw. als eine bestimmte Strömung an Energie, die auf etwas oder einer anderen Person ausgerichtet ist, aufgefasst werden. Liebe ist nebenbei bemerkt ebenso eine Kraft und Haltung die nicht die Macht, sondern die Menschen anerkennt. Dazu hob Klaus Heinrich in seinem Vortrag 'Denken und Staub' insbesondere die Haltung der Antigone hervor, doch ihre Weigerung dem Gebot des Königs zu folgen wurde zu ihrem Schicksal. Sie wurde nicht ins Exil d.h. über eine Grenze hinaus geschickt, sondern ins Niemandsland verbannt d.h. da wo der Mensch weder lebendig noch tot ist. Das ist aber etwas ganz anderes als jene Erfahrung scharf gemachter Grenzen wie der Dichter dies veranschaulichen will.
Zurück zur Liebe als eine vom Kontext abhängige, so scheint sie einer Ausrichtung innerhalb eines institutionellen Rahmens zu unterliegen. Zumindest würde das der Liebe zu Zeiten der EU entsprechen. Hier aber wirkt der Begriff der Geschlechterspannung von Klaus Heinrich nach. Als Renate Scherer ihre Doktorarbeit über 100 Jahre Prostitution in Schanghai schrieb, und diese Bezeichnung von Klaus Heinrich aufgriff, kam sie zum Schluß, daß im klassischen Zeitalter von China noch das Geischa Mädchen begehrt war; dann aber kamen die Kommunisten an die Macht, und plötzlich wurde das Arbeitermädchen im Freudenhaus die begehrteste Frau; und als die Freundschaft zwischen Russland und China zustande kam, war die russische Puppe im Freudenhaus die meist begehrste. In allen drei Fällen zeigt sich, daß die Erotik beeinflussbar ist bzw. die stärkste Geschlechterspannung richtet sich nach dem größten Strom an Zuwendung, sprich wohin momentan das meiste Geld fliesst, und darum sich geschäftliche und erotische Möglichkeiten in der angegebenen und geförderten Richtung vermählen. Es macht aus dem bislang unbeachteten etwas begehrenswertes.
All das sei gesagt, um die ans Gedicht 'Liebe in den Zeiten der EU' gerichtete Frage etwas verständlicher zu machen. Die Frage lautet wie folgt: um welch eine Liebe handelt es sich denn, wenn alles aufs erneute Errichten von scharfen Grenzen hinausläuft? Unklar scheint es nach dem Lesen des ganzen Gedichtes, ob der Dichter davon ausgeht, daß es solch eine Liebe für Menschen nicht über die von Mutti hinausgehen kann, oder vielmehr Muttis indirekte Liebe, erkennbar nur anhand der Tatsache, daß sie den Abwasch mache, in den Zeiten der EU nicht ausreicht, um auf der insgesamten Ebene der EU eine Differenz betreffs Aufnahme der Migranten zu machen? Vermutlich bleibt dabei solch ein Vergleich Indiz einer möglichen Überforderung nicht nur von Mutti, sondern schlichtweg von der Liebe selber. Aber dann stellt sich erneut die Frage, von welcher Liebe ging das Gedicht aus?
Hatto Fischer
Athen 4.4.2014
Weitere Kommentare zum Gedicht:
- Tübingen 5.4.2014
Ich habs gehört. Ich erschrecke.
Vor diesen Worten, die Bilder auslösen wie der Nachrichtensprecher im TV.
Warum nimmt der Dichter die Sprache verachtender Aufzeichnung – nochmals?
Wiederholt das Geschehen in dieser Dichte?
Hat solche Anklage je was geändert ?
ALLE wissen wir darum!
SO mit derartiger Anklage erreicht keiner Zwischenmenschlichkeit!
Noch mehr Betroffenheit wirkt sich kataton aus. Lähmung der Seele - aus solcher Grundstimmung heraus, hätte ich all die Jahre mich nie sozial engagieren können.
Und die Menschen in meinem Umfeld genau so wenig.
Der Modus um "die Welt zu retten" ist Hoffnung gekleidet in Kreativität und bedingungsloser Zuwendung.
Solch eine Gedichtsperformance erzeugt nur Aggression ...,Krieg. Das kennen wir doch nicht nur aus der Lyrik des 19 Jahrhundert zu gut.
Genau genommen weht darin der Geist des vernichtenden materialistischen Systems das immer noch die Welt regiert!
Zusatz:
Die Welt als Seinsort und die Menschheit an sich ist in einer Sisyphos gleichen traumatisierenden Krise. Aktuell löst der Fingerzeig auf die EU als" gelobtes Land" Emotionen aus, die der Tatsache einer globalen Ver- Antwort- ung gegenläuft. Als ob "Fluchtorte" auf dieser Erde auszumachen wären! - Ein Bewusstsein das sich der Reflektion kollektiver Zusammenhànge gewahr ist, um die Auswirkungen des morphogenetischen Feldes weiss, sind Leuchttürme in der Odysee der Bewusstsein- um -nachtung unserer Weltlage. Gerade in einem Forum für Poeten müssten solche Vertonungen des Bewusstseins promotet werden, die den unaufgearbeiteten Faktoren der gesellschaftlichen Realität in d EU und darüber hinaus einen friedensstiftenden Sinn in ihren Worten haben.
Ines Dulay Winkler
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