Einleitung
Artikulationsprobleme der Arbeitenden sind angesichts des vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) seit 1945 nicht ohne weiteres theoretisch zu erläutern. Vor allem sind sie in ihren Gegebenheiten nicht selbstverständlich – dem Wissen zugänglich. So fragte mich während einer meiner Untersuchungen der ökonomischen Bedingungen des Hafens von Genua, Italien, ein Elektroingenieur, der sich mit größter Selbstverständlichkeit Arbeiter nannte, warum nicht einfach die Rede von 'Ausdrucksmöglichkeiten' sei? Er meinte damit Arbeitende leiden unter ihrem Bewusstsein nicht selbstverständlich Gedanken in Wörter fassen zu können, das aber sei für ihn eine viel verständlichere Problematisierung von Sprache und Arbeiterbewusstsein. Er betonte die Tatsache, dass die Arbeitende in Verbindung mit sichtbaren Zusammenhängen, Gewerkschaftsfunktionäre hingegen auf abgehobenen Ebenen handeln bzw. reden, und warf die Frage nach Authentizität solch einer Organisation auf. Entsprechend problematisch seien die Gewerkschaftsprogramme, weil nicht von den lebendigen, ja spannungsvollen Stimmen der Arbeitenden, vergleichbar einem Orchester vor dem Konzertbeginn, getragen. Die Interessen der Arbeitenden würden demnach mangels einer aktiven Gewerkschaft nicht mehr von der Gesellschaft wahrgenommen.
Ich erwiderte ihm, aber gerade diese Kluft zwischen den Arbeitenden und den bewusst eingenommenen Positionen einer Gewerkschaftsbewegung macht im Unterschied zu ihren sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten die Artikulationsprobleme der Arbeitenden aus. Während also Arbeitende sich von ihrer Organisation abwenden und nur in ihren Kommunikationsformen verbleiben, verselbständigt sich eine Gewerkschaft, je mehr sie auf Widerstand seitens des Kapitals stößt. Sie wird sich nur noch anhand einiger weniger Forderungen artikulieren können. Arbeitende, die das Reden derjenigen da 'oben' als sinnlos abtun, müssten Kritik erfahren und nicht, wie oftmals heute der Fall romantischer Klassenkampfpositionen, dem Mythos der Arbeiterklasse zugeordnet werden. Diese Vinifizierung kennzeichnen die Abwendung vieler Kritiker der Gesellschaft, die das Proletariat stilisieren, weil sie selbst enttäuscht sind. Letzteres kommt gleich einem Liebesentzug derjenigen, die nicht das bekämen, was sie vom Arbeiter wollten: die politische Revolution. Wird das nicht artikuliert gebliebene Verständnis von Politik in jeder Hinsicht zu einem problematischen Schweigen, wenn nicht sogar zu einer alle hilflos machende Passivität, setzt unweigerlich die Restauration ein. Sie ist inzwischen zum Verhängnis vieler Arbeitender und engagierten Gewerkschaftern geworden.
Der Begriff Artikulation besagt, dass es einen besonderen Einfluss der Philosophie auf die Politik der Gewerkschaftsbewegung gibt. Artikulationsprobleme resultieren aus dem Mangel einer Verbindung zwischen Arbeitenden und Gewerkschaftsprogramme, z.B. die Forderung nach der 35-Stunden Woche, um all das, was zur komplexen Realität der Arbeitenden gehört, wenn nicht auf eine ganz abstrakte Weise abzutun, dann doch gezielt alles auf die Bestätigung der Gewerkschaftssymbole abzustimmen, um die Dinge scheinbar zu vereinheitlichen. Letzteres ersetzt eine inhaltliche Bezugnahme einer Gewerkschaft auf die Artikulationsprobleme der Arbeitenden. Angesichts des Gewerkschaftprogrammes (1981) des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) taucht deshalb die Frage auf, ob Arbeitende sich darin wiedererkennen können? Schließlich sprechen Funktionäre des DGB von 'Arbeitern, Angestellten und Beamten' im Bezug auf den gemeinsamen Nenner, Bürger eines Landes zu sein. Sie gehen davon aus, dass es neben Arbeitern, ohne ohnehin wegen ihrer Lohnabhängigkeit Arbeitnehmer genannt werden, es noch andere schichtspezifische Interessen der Angestellten und Beamten gibt. Gemäß diesen politischen Kategorien hat der DGB zwecks Grundorientierung all seiner Programme eine alle einheitliche Formel deklariert: alle, einschließlich die Arbeitnehmer, wollen zum Wohlstand aller beitragen, weil im Interesse der 'Bürger' der Bundesrepublik Deutschland. Automatisch folgt dem, dass der DGB mehr Interesse an Verteilungsfragen bezüglich des von 'allen' produzierten Reichtum hat, als dass er die Organisation als Möglichkeit der Arbeitenden sich gegenüber der Verfügungsgewalt des Kapitals zu artikulieren, gebraucht. Jenes entspricht der Tradition der Staatsloyalität innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft, insofern der DGB die Grundordnung von Besitz und Eigentum achten muss und will. Er lässt ihn auch jene Gesetze achten, die zur Grundlage der Tarifautonomie gehören, nämlich das Betriebsverfassungsgesetz. Er hat damit einen entscheidenden Kampf um das Bewusstsein der Menschen bereits ab 1951 aufgegeben bzw. akzeptiert die entpolitisierte Konzeption der nun seit 1945 bestehenden Arbeiterorganisation. Im Prinzip sagt das alles, wenn selbst Arbeitnehmer die Meinung vertreten, 'wer redet, der arbeitet nicht!' Politik, sprich die bewusste Reflexion dessen, was produziert werden soll bzw. kann und Arbeit, also das Befolgen der Produktionsanweisungen ohne Widerspruch zur Verfügungsgewalt, manifestieren sich in dieser Wirtschaftsordnung als anscheinend zwei voneinander getrennte Angelegenheiten des Lebens. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es zunächst möglich zu sein, dass alle sich am Aufbau einer neuen Ökonomie, frei vom Einfluss der Banken und des Industriesyndikalismus, beteiligen würden. Aber dann kam die Politik von Adenauer. Seitdem gibt es einen entpolitisierten Gewerkschaftsbund, der meint, seine politische Identität aus den Idealen der Französischen Revolution für das gewerkschaftliche Selbstverständnis ableiten zu können: 'Brüderlichkeit, Solidarität und Freiheit'.
DGB-Funktionäre vertreten darum die Auffassung, dass weniger Artikulationsprobleme der Arbeitenden als vielmehr eine abhanden gekommene Orientierung an diesen Idealen die Gewerkschaftsorganisation, ihre Politik und letztlich ihre Durchsetzungsmöglichkeiten belasten würde. Als H.O. Vetter noch Gewerkschaftsvorsitzender war, brachte er die politische Philosophie des DGB auf einen Nenner: pragmatischer Idealismus. Methodisch kann an diesem Begriff erkennbar gemacht werden, dass es sich in dieser Arbeit um die parteiliche Wahrnehmung der Differenz zwischen Artikulationsprobleme der Arbeitenden und jener vom DGB eingenommenen Position handeln wird.
Während leider viele Arbeitnehmer die Philosophie als Praxisferne bezeichnen und darum ablehnen, bedeutet die Grundhaltung des DGB, dass er Rekurs auf eine Tradition nehmen muss, um sich gegenüber dem Erwartungsdruck der Mitglieder überhaupt legitimieren zu können. Die These von Paul Tillich, Tradition sei nur ein Mittel zur Entstellung der Gegenwart, wird deshalb in dieser Arbeit übernommen und auf den DGB angewendet. Wichtigstes Kriterium bleibt dabei, inwieweit es dem DGB gelingt, eine rationale Politik, d.h. eine im Interesse der Arbeitenden und nicht eine gegen sie gerichtete, zu entwickeln. Idiomatische Redewendungen von seitens der Funktionäre als auch von Arbeitenden bilden dazu die sprachphilosophische Grundlage. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass das Sprachbewusstsein des einzelnen hinsichtlich einer bestimmten Organisation bestimmte philosophische Determinanten aufweist und deshalb in einer für die Organisation des DGB charakteristischen, weil in sich widersprechenden Zwangsform verfangen ist. Für Arbeitende bedeutet das angesichts der Notwendigkeit, ihre Arbeitskraft entäußern zu müssen, ein permanentes Ausgesetzt-sein der Gewalt, weil sie ohne Sprache bleiben, d.h. Sie sind außerstande sich gegen die Kategorien moderner Arbeitsorganisation zu wehren. Die Ablehnung bzw. Verweigerung einer Reflexion rächt sich spätestens ab diesem Moment und lässt nicht mehr fragen, welche Kategorien systematisch ausgeschlossen bleiben, obwohl jeder sie bräuchte, um sein Selbstverständnis als Mensch und als Arbeitender artikulieren zu können.
Die Arbeit beginnt deshalb mit dem philosophischen Aspekt des Gewerkschaftsprogramms 1981 und endet mit einer differenzierten Darstellung der These von Paul Tillich (entnommen seinem Buch 'Die Sozialistische Entscheidung'). Es wird die Auffassung vertreten, dass Artikulationsprobleme aus unreflektiert gebliebenen Determinationen des menschlich Sprachbewusstseins entstehen, es sich also um Grenzen des Seins und der Existenz des Menschen handelt. Die Grenzen sind mittels einer artikulierbaren Strategie überschreitbar; Gewerkschaft im positiven Sinne wäre dann das verbindende Etwas. Hier wäre an Blochs Ausruf 'Denken heißt Überschreiten' als auch an Adornos Bemühungen, das Sein und das Seiende durch Etwas verbinden zu wollen, zu erinnern. Nur, in diesem Jahrhundert wurden bereits allzu viele Grenzen in negativer Weise überschritten, so dass Nathalie Sarraute es berechtigterweise als das 'Zeitalter des Misstrauens' benennen konnte.
Das Verhältnis der Arbeitenden zum DGB ist durch ein gravierendes Misstrauen belastet: allzu viele Grenzen wurden seitens seiner Funktionäre überschritten. Die Partizipation der Arbeitenden an gewerkschaftlichen Aktivitäten blieb aus. Der in Paris lebende Philosoph Cornelius Castoriadis meint dazu, nicht alleine die Wiedererkennbarkeit im Programm sei erforderlich, sondern ebenfalls ein erneutes Reflektieren des inzwischen zur Institution gewordenen Verhältnis der Mitglieder zum DGB. Erst wenn der DGB als politische Konzeption auf der Ebene des Imagination wieder reflektiert werden kann, könnte sich etwas in diesem Verhältnis verändern. Mit Imagination ist ein besonderes Element im menschlichen Bewusstsein gemeint: weder Teil der Realität, noch Ausdruck eines Mythos, besagt die Anwesenheit oder vielmehr Abwesenheit der Fantasie, dass die Kategorien der Organisation zu nichts sagenden Denkschablonen geworden sind, d.h. sie verfehlen das Leben der Arbeitenden. Statt Partizipation wird allzu viel Wert auf bloße Repräsentationsfunktionen gelegt. Zumal Funktionäre am Status quo orientiert sind, macht das die ganze Organisationspolitik zu einem Alibi des Systems und dient letztlich den konservativen Interessen.
Die Arbeit will durch philosophische Reflexion eine lebendige Kritik am DGB aufzeigen. Angesichts den Erfahrungen seit 1933 und speziell deren mit der nationalsozialistischen Ideologie (einschließlich der totalitären Sprache – siehe Jean-Pierre Fayes Analyse, der diese Arbeit viel verdankt) gilt die Freiheit des theoretischen Arbeitens dem Ausfindig-machen-wollen der Gründe für irrational gewordenes Verhalten vieler in der Geschichte. Ungelöste Artikulationsprobleme fördern das Irrationale. Darum gehört die Lösung der Artikulationsprobleme zur wichtigsten Voraussetzung einer Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, weil erst dann Menschen bewusst an Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen können.
Hier möchte ich Johannes Agnoli erwähnen, dessen Arbeiten ('Transformation der Demokratie' und 'Überlegungen zum bürgerlichen Staat') für mich einen entscheidenden Ausgangspunkt bilden: ab wann begreifen sich Arbeitende auf der sinnlichen Ebene so, dass der Staat nicht mehr wie bislang mittels Aushöhlung der Demokratie gegenüber ihrer artikulierbar gewordenen Wirklichkeit standhält?
Die Arbeit trägt das Motto 'le choisir est libre, mais pas les hommes de terres' – die Wahl ist frei, nicht aber die Menschen auf dieser Erde. Das deutet eine Verbindung zu Jean Paul Sartre und seiner Auseinandersetzung mit der Freiheit des Menschen an. Er sagte, 'keine neue Philosophie sei möglich, bis nicht die Forderungen der alten, einschließlich die von Marx, erfüllt worden sind', darum sei die seinige, also die existenzialistische Philosophie, nur die besondere Ausarbeitung weiterer Bedingungen zur Erfüllung der alten Forderungen nach Gerechtigkeit und menschlichem Selbstbewusstsein. Ich versuchte, unterstützt von meinen Freunden, daran anzuknüpfen, um schreibend das zu reflektieren, was bei einer Spedition in Mannheim, in einem Kindergarten in München oder auf einer Intensivstation in Berlin zu sehen und zu hören ist. Jetzt trage ich die Verantwortung für das, was hier geschrieben vorliegt.
Hatto Fischer
Berlin 1987
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