Amokläufer in München
Wie kommt es zu solch einer Tat? Gemeint sei das jüngste Ereignis in München: ein achtzehnjähriger erschießt neun Menschen und dann sich selbst, während er 20 weitere Verwundete hinterlässt. Diese Frage stellt sich nicht neu. Nach Nizza, und dann nach dem Angriff von einem anderen achtzehn jährigen Jugendlichen mit einer Axt auf Passagiere in einem Regionalzug bei Würzburg, und jetzt nach dem jüngsten Vorfall in München, wirkt diese Frage um so stärker weil von Seiten der Gesellschaft adäquate Antworten darauf fehlen.
John Berger stellte in seinem kurzen Aufsatz über Charlie Chaplin und der Kunst des Fallens fest, dass "die Worte fehlen, um den tagtäglichen Sorgen, den ungestillten Bedürfnissen und enttäuschten Wünschen Namen zu geben." Er meint das Unerklärliche nimmt jeden Tag zu weil das eigene Stimmrecht nichts mehr zählt, und "die nationalen Politiker haben längst keinen Einfluss mehr auf das, was sie tun oder lassen. Die fundamentalen Entscheidungen werden heute überall von namenlosen Finanzspekulanten und ihren Agenten getroffen, die sich politisch nie erklären." Doch der Clown, gleichfalls Charlie Chaplin, unterscheidet sich von den anderen weil der ständige Verlust sein Prolog ist. Denn "jedes Mal, wenn er fällt, kommt er als neuer Mensch auf die Füsse."
Eine Freundin in Frankfurt, die mit unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen arbeitet, berichtete unlängst diese Übergriffe von achtzehnjährigen ist nur die Spitze des Eisberges. Sie sieht was die Jugendliche sich selber antun: sie schneiden sich, sind verzweifelt, und sehen keine Perspektive. Praktisch ist dieses Problem bislang unbeachtet geblieben, weil die Welt zur Zeit immer neuen Herausforderungen gegenüber steht, und die Reaktion auf solche Ereignisse stets eine Fassungslosigkeit der Politiker unterstreicht.
Dabei hat Enzensberger schon lange auf den radikalen Verlierer aufmerksam gemacht. Wenn einer meint, dass er nie wieder in dieser Gesellschaft Anerkennung finden wird, dann treibt solch eine unbarmherzige Verzweiflung den Jugendlichen entweder in den Selbstmord oder zu solch einer schrecklichen Tat. In Norwegen wird gerade um diese Zeit an die Opfer vom Amokschützer Brevik erinnert. Viele Jugendliche scheinen solch negativen Helden folgen zu wollen, insofern sie einen Art Wettkampf erfinden, um herauszufinden, wer kann die meisten Menschen mit in den Tod reißen. Es ist also ein quantitatives Ausmaß das die Welt so sehr erschüttert, weil wahllos und doch gezielt auf unschuldige Menschen geschossen wird, um zu töten. Ähnliches spielte sich in Nizza ab. Denn während er den Lastwagen wie einen Pflug durch die Menge rasen ließ, schoss er obendrein aus dem Fenster wahllos auf die Menschen ein.
Es muss ein Irrsinn sein, der zu solch einem 'Tablu Rasa' treibt. Eine klare Bezeichnung dafür gibt es nicht. Dennoch wird vieles aufgestaut und angelernt durch Videospiele die stets mit Schießereien und unmöglichen Situationen zu tun haben, um dann dem endlichen Entkommenen aller Gefahren zum Trotz als Helden zu feiern. Nicht wird gefragt wie viele auf der Strecke blieben. Es ist ein bewusstes Ausklammern der ethischen Dimension oder das was im Menschen dazu beiträgt, Leben erhalten zu wollen, einschließlich das eigene Leben. Auf Englisch wird das "survival drive" genannt. Warum das in solchen Fällen plötzlich nicht mehr funktioniert, wundert einen doch sehr, da Schmerzen und Niederlagen auch wichtige Erfahrungen sind, um aus ihnen klüger hervorzugehen.
Was kann aber im Nachhinein zum Polizeieinsatz in München gesagt werden, denn jener kam zu spät, um das zu verhindern, was dieser achtzehn jährige insbesondere unter Jugendlichen anrichtete? Allein die Tatsache dass 2 500 Polizisten im Einsatz waren, während es sich dabei um nur einen Jugendlichen mit einer Pistole handelte, allerdings eine tödliche Waffe insofern neun sterben mussten und 20 verletzte um ihr Leben jetzt bangen, stellt die Frage: was besagt solch eine unverhältnismäßige Proportionalität: 1 gegen 2 500? Es besagt wie leicht eine überdrüssige Gesellschaft beides verfehlt: die Verhältnismäßigkeit der Mittel im sogenannten Kampf gegen Terror, und welche Art Panik in den oberen Schichten herrschen muss, weil dies ihre eigene Unsicherheit wieder spiegelt. Sie versuchen sich zu schützen gegen was?
Am deutlichsten wird das in den Verlautbarungen nachdem das Schreckliche geschehen ist. Keiner findet ein wahres Wort zugunsten des Lebens, um mal die eigene Stirn diesem Unsinn des wahllosen Tötens zu bieten. Hollande in Frankreich kann nur die Sondergesetze zwecks Bekämpfung des Terrors um drei Monate verlängern, aber ein wirklicher Schutz bieten all diese Maßnahmen überhaupt nicht. Denn die Lücke im Sicherheitsnetz sind die Menschen selber.
In ihrer Anonymität verflüchtigen sich ihre Gedanken in dem Wirrwarr der Nacht die bei vielen einen Schrecken hinterlässt, und von Psychologen als Trauma bezeichnet wird. Angst lässt Menschen auch im Güterwaggon zusammen gepfercht niederkauern, über ängstlich sobald die Waggontür geöffnet wird und durch den Spalt das erste Tageslicht dringt.
Es gibt Spuren des Nachdenkens wie all dem etwas entgegen gesetzt werden kann, denn schließlich ist das Vertrauen ins Leben auch ein Vertrauen in andere Menschen, dass sie einem nichts böses antun wollen. Die griechische Dichterin Katerina Anghelaki Rooke bezeichnet diese Gegenüberstellung als die "Poetik des Lebens versus die Poetik des Todes." (Siehe The poetics of life versus the poetics of death - Katerina Anghelaki Rooke (1994)) Letzteres wurde von den BREXIT Befürwortern bewirkt, weil sie mit diesem Votum die Zukunft der Jugendlichen verbauten.
Überhaupt ist ein jeder im öffentlichen Raum verwundbar, und insbesondere das Vertrauen in eine offene Gesellschaft schwindet dahin, wenn es dazu kommt, dass nur ein Mensch, in diesem Fall ein Jugendlicher, es gelingt Schrecken allen anderen einzujagen. Er will nicht nur Unruhe stiften, sondern weitaus mehr ein trauriges Ende vom menschlichen Leben als das unbekümmerte Zusammensein signalisieren. Es muss eine bestimmte Wut auf diese Gelassenheit der konsumierenden Menge geben, so als wären sie das Rätsel, das für den verzweifelten Jugendlichen nicht zu lösen ist. Er als Außenstehender weiß nicht wie er in solch einer unbekümmerten Gesellschaft existieren kann. Das Nicht Wissen verbindet sich leicht laut Freud mit dem Todestrieb, so dann wäre es wichtig die psychoanalytischen Untertöne einer insgesamt verzweifelten Gesellschaft endlich mal aufzuspüren.
Hatto Fischer
Berlin 23.7.2016
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